Wächter des Elfenhains (German Edition)
das Gefühl hatte, sie beinahe mit den Händen greifen zu können. Er spürte Ionosens Willen darin, seine bedingungslose Hingabe und Entschlossenheit, ihn zu beschützen, was immer auch geschah, spürte die kristallene Schärfe seiner Konzentration, die die Luft zwischen ihnen zum Knistern brachte und prickelnd über seinen Körper rann, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie gewaltig die Macht des Elfenpropheten tatsächlich war. Ionosens Stärke strömte in seinen Geist, spülte den Schlick seiner kleinmütigen Zweifel hinfort und erfüllte ihn mit neuer Zuversicht. In der Tat, Ogaire war nicht allmächtig. Und solange er solche Feinde wie Ionosen hatte, die sich ihm entgegenstellten, gab es noch immer Hoffnung.
Doch ob allmächtig oder nicht, für Andion spielte das – zumindest im Augenblick – keine Rolle mehr. Er konnte nicht länger warten. Der Hain verlangte nach seiner Anwesenheit. Immer stärker hatte er das Gefühl, als sei ein Anker tief in seine Seele versenkt worden, und wenn er dem Zug der Kette nicht bald folgte, würde ihm seine Seele wohl aus dem Leib gerissen werden – was ohne Zweifel sein Tod wäre.
Er ging los, erst langsam, dann immer schneller. Ionosen blieb dicht an seiner Seite, konzentriert und wachsam. Seine Lippen hatten sich erneut zu bewegen begonnen, flüsterten Worte der Macht in die warme Sommerluft, und Andion spürte, wie sich der Kokon aus magischer Energie, der sie beide umhüllte, noch einmal verstärkte.
Unsichtbar und lautlos wie Mondlicht huschten sie zwischen den Stämmen der Bäume hindurch, überquerten eine offene Grünfläche und tauchten auf der anderen Seite wieder in den Schatten des Waldes ein. Niemand hielt sie auf. Sollte Ogaire tatsächlich bereits irgendwo hier im Park durch die Büsche schleichen, so hatte er sie offensichtlich bisher noch nicht entdeckt. Andion betete, dass es noch eine Weile so bleiben möge.
Dann stoppten seine Schritte jäh, und seine Augen wurden groß. Der Zugang zum Hain lag unmittelbar vor ihm.
Auf den ersten Blick schien es nichts zu geben, das die Aufmerksamkeit eines ahnungslosen Spaziergängers über das übliche Maß hinaus auf sich hätte ziehen können. Die knorrigen Eichen und die mächtigen, dunklen Tannen und Föhren unterschieden sich in nichts vom Rest des Wäldchens, und doch fühlte Andion sofort die Veränderung in der Luft, ein eigenartiges Summen und Vibrieren, das ihm niemals zuvor aufgefallen war, obwohl er in den letzten beiden Jahren vermutlich mehr Zeit hier im Park verbracht hatte als in der düsteren Gruft, die er gemeinsam mit seiner Mutter und Ionosen bewohnte. Heiße Schauer jagten durch seinen Körper, und die Haare auf seinem Kopf gerieten in knisternde Bewegung, als er ehrfürchtig einen Schritt nach vorne trat. Niemals zuvor hatte er etwas Ähnliches empfunden; es war, als stünde er am Rande einer unsichtbaren Gewitterwolke, die gerade Atem holte, um den gewaltigsten Blitz der Menschheitsgeschichte auf die Erde niedersausen zu lassen, und doch gab es keine Furcht in seinem Herzen, nicht mehr, nicht in diesem Augenblick. Die Spannung um ihn herum schien von Sekunde zu Sekunde zuzunehmen, und der Ruf des Hains war mittlerweile zu einem machtvollen Tosen angeschwollen, das wie ein Sturmwind durch seinen Geist brauste und jeden Gedanken bis auf einen mit sich davontrug.
Doch obwohl alles in ihm danach schrie, endlich den Vorhang beiseitezuschieben und die Schwelle zu überschreiten, drehte er sich noch einmal zu Ionosen um.
„Weiß meine Mutter Bescheid? Weiß sie, wohin ich gehen muss?“
Ionosen nickte. „Ja. Sie weiß alles.“
Andion hörte die letzten beiden Worte kaum noch. Sein Verlangen hatte ihn endgültig überwältigt, zwang ihn mit aller Macht vorwärts. Plötzlicher Nebel wallte rings um ihn auf, doch er ging einfach weiter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Hain erwartete ihn.
7. Kapitel
Stumm und reglos wie die Schatten, die sich in dem engen, stickigen Zimmer drängten, stand Ogaire am Fußende des Bettes und blickte mit ausdrucksloser Miene auf die bleiche, ausgemergelte Gestalt, die vor ihm lag. Die Augen der Frau waren geschlossen; ihr Atem kam nur noch als leises, qualvolles Pfeifen über ihre rissigen Lippen, und ihr ausgezehrtes Gesicht, das früher durchaus schön gewesen sein mochte, war durch das schreckliche Wüten der Krankheit entstellt, die sie schließlich ans Ende ihres Weges, ins Oakwood General Hospital zu Dr. Crofton Wicklow, geführt hatte.
Ogaire
Weitere Kostenlose Bücher