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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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zwang sich, tief durchzuatmen, glättete die stürmischen Wogen seiner Gefühle, so gut er es eben vermochte, und wandte sich um.
    Gairevel can’Cerion kam zwischen den Bäumen hervor und winkte ihm. „Neanden, warte!“
    Neanden versuchte, nicht zu erschrecken. Gairevel war ein Krieger, ein starker, stolzer Mann, so vollkommen in seiner Hingabe an das Wohl der Gemeinschaft und seiner Loyalität gegenüber dem Willen des Rates, so unbeugsam in seiner Entschlossenheit, den Hain und seine Bewohner gegen jegliche Bedrohung zu verteidigen, dass Neanden jedes Mal, wenn er ihn erblickte, die Kehle eng wurde. Denn während ihm sein eigenes Versagen, seine eigene Schuld mit jedem weiteren verwelkten Blatt und jedem neuen Grab, das sie ausheben mussten, tiefer und schmerzhafter in die Seele schnitt, schien Gairevel von dem Sterben ringsum unberührt zu bleiben. Das Licht seiner Hoffnung leuchtete noch immer so strahlend und hell wie vor 90 Jahren, noch ehe ihnen das ganze Ausmaß des Verhängnisses, das Ogaires Verrat über ihr Volk gebracht hatte, offenbar geworden war, und je leerer es im Dorf wurde, desto reiner und kraftvoller brannte sein Wille, sich nicht von Krankheit und Verfall in die Knie zwingen zu lassen und dem drohenden Untergang mit trotzig erhobenem Kopf seine Herausforderung ins Gesicht zu schleudern.
    Neanden beneidete ihn um seine würdevolle Ruhe und um die Kraft seiner Überzeugung. In Gairevels ernste, dunkle Augen zu blicken und seine bedingungslose Liebe zum Leben zu spüren, seine Leidenschaft und Entschlossenheit, bis zum letzten Atemzug für sein Volk und seine Heimat zu kämpfen, war, als würde er in einen Spiegel schauen – einen Spiegel, der ihm zeigte, wie groß der Verlust, den er erlitten hatte, tatsächlich war.
    Beschämt schlug er die Augen nieder, und sein Magen verkrampfte sich. „Wünschen die Ältesten, mich zu sprechen?“, fragte er dumpf.
    Es war eine naheliegende Vermutung. Was sonst könnte Gairevel zu so früher Stunde von ihm wollen?
    Gairevel nickte ernst. „Ja. Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Ich fürchte, du wirst mich begleiten müssen.“
    Neanden erstarrte. „Jetzt sofort?“
    Sein Herz schlug ihm auf einmal bis zum Hals. Noch nie hatte der Rat noch vor Sonnenaufgang eine Versammlung einberufen. Was auch immer geschehen sein mochte, offenbar war es wichtig genug, dass sie ihren treuen Vasallen schickten, um ihn abzufangen, ehe er für den Rest des Tages im Wald verschwand. Ein eisiger Schauer rann seinen Rücken hinab, und seine Hände wurden feucht. Hatte er einen Fehler gemacht? Hatte er seine Pflichten trotz allen Bemühens nicht gut genug erfüllt? Er tat, was er konnte, bewachte die Grenzen, ließ niemanden herein. Doch gegen den schleichenden Tod des Hains konnte er nichts tun. Er konnte die Bäume des Waldes nicht wieder zum Wachsen bringen, seine Grenzen nicht erweitern; er vermochte sie ja nicht einmal am Schrumpfen zu hindern.
    Dabei hätte er es sogar mit bloßen Händen versucht, wenn es auch nur den geringsten Erfolg versprochen hätte. Aber nicht einmal die Ältesten selbst wussten, wie sich die eiternde Wunde im Herzen des Hains, die Ogaires widerwärtiger Zauber dort hinterlassen hatte, schließen ließ.
    Natürlich spürte Gairevel seine Not. Er schaute ihn an, und seine großen, ausdrucksstarken Augen schimmerten voller Mitgefühl und Verständnis.
    „Alle wissen, dass du tust, was in deiner Macht liegt, Neanden, auch der Rat. Die Ältesten würden niemals daran zweifeln, dass du für den Hain ohne zu zögern dein Leben geben würdest, sollte es jemals nötig sein. Aber heute geht es nicht um deine Pflichten, Neanden. Vertrau mir. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.“
    Neanden sah ihn misstrauisch an. Das wäre tatsächlich einmal etwas Neues. Da Gairevel jedoch offensichtlich nicht mehr sagen wollte, folgte er ihm schweigend zurück in Richtung Dorf.
    Wenige Minuten später betraten sie den Versammlungssaal, in dem der Rat der Ältesten residierte. Wie immer, wenn er in den dämmrigen Schatten der Eichen eintauchte, deren gewaltige Stämme die natürlichen Wände der riesigen Halle bildeten, und zu dem dichten, grünen Blätterdach emporblickte, das sich als Schutz vor Wind und Wetter in schwindelerregender Höhe über dem laubbedeckten Boden spannte, erbebte Neanden vor Ehrfurcht angesichts des unermesslichen Alters und der Bedeutung dieses Ortes, einer Bedeutung, die nur noch vom Herzen des Waldes selbst

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