Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
Vom Netzwerk:
zu stark. Er hat nicht nur uns getäuscht, sondern unser gesamtes Volk. Selbst die Ältesten haben nie etwas Böses in ihm gesehen, wie hätten da wir seine Lügen durchschauen können?“
    Die Worte schmeckten schal auf seiner Zunge. Zu oft hatten sie bereits hier gestanden, hatten versucht, eine Antwort auf ihre quälenden Fragen zu finden, irgendetwas, das die Last ihres Versagens und ihrer Schuld ein wenig leichter hätte machen können. Es war eine vergebliche Hoffnung, er wusste es, und sie wusste es auch. Woher hätten sie diese Hoffnung auch nehmen sollen? Der Schlag war zu heimtückisch gewesen, hatte sie zu unvermittelt getroffen.
    Neanden presste voll Bitterkeit die Lippen aufeinander. Nicht einmal Ionosen, der große Elfenprophet, hatte das Unheil kommen sehen. Auch er hatte Isiradas Tod nicht verhindern können – oder den ihres Kindes. Auch er war machtlos gegen Ogaires finstere Magie gewesen, hatte nichts getan, als Ogaire den Hain mit seiner Bösartigkeit besudelte und ihm sein widerwärtiges Mal in die Seele brannte. Nichts getan, als er die reine Quelle des Lebens schändete und das Gift seiner Verderbtheit in sie hineinpumpte. Viel zu viele waren bereits gestorben.
    Seine Mutter las seine Gefühle aus seinem Gesicht. Ihre Gestalt straffte sich. „Ionosen wird ihn aufhalten!“, rief sie beinahe vorwurfsvoll. „Eines Tages wird er Ogaire finden und stellen. Der Hain wird wieder gesunden und Ionosen wird zu uns zurückkehren.“
    Neanden erstarrte. Seine Miene wurde hart. Vielleicht hatte seine Mutter recht. Vielleicht versuchte sein Vater tatsächlich, Ogaire zu vernichten. Doch das änderte nichts an seinem Verrat. Gegen den ausdrücklichen Befehl des Rates hatte er den Hain verlassen und war in die Menschenwelt gegangen, hatte seine heiligen Pflichten als Hüter und Beschützer des Waldes mit Füßen getreten und sich von seinem Volk abgewandt – und von seiner Familie.
    Neunzig Jahre war er nun schon fort, und nicht ein einziges Mal hatte der Hain ihn zurückgerufen. Darin lag eine bittere Wahrheit, und auch wenn seine Mutter die Augen davor verschloss, er selbst vermochte es nicht. Ogaire hatte seinen Verfolger vermutlich schon vor langer Zeit getötet.
    Trotzdem schwieg er. Natürlich konnte seine Mutter spüren, dass er nicht wie sie an die Rückkehr seines Vaters glaubte, aber sie weigerte sich, es zu sehen, klammerte sich noch immer verzweifelt an eine Illusion, die schon längst so zerschlissen und brüchig wie ein altes, von Motten zerfressenes Kleidungsstück geworden war, das nur noch von wenigen dünnen Fäden am Auseinanderfallen gehindert wurde.
    Und so war auch er zum Schweigen verdammt, war gezwungen, seine Rolle in einem Spiel zu spielen, das mit jeder neuen Runde den Dolch der Qual tiefer in sein Herz trieb. Doch er hatte keine Wahl. Niemals könnte er es sich verzeihen, ließe er zu, dass auch noch ihre letzte Hoffnung erlosch, dass ihr auch der letzte Zufluchtsort genommen wurde, der ihre frierende Seele noch zu wärmen vermochte. Dieses winzige Fünkchen Zuversicht war alles, was sie noch am Leben hielt. Er wusste, sollte sie jemals gänzlich ihren Mut verlieren, würde sie innerhalb kürzester Zeit dahinsiechen und sterben, und das könnte er nicht ertragen. Sie war der Einzige, der ihm noch geblieben war. Der Einzige, den Ogaires schrecklicher Verrat noch nicht von seiner Seite gerissen hatte.
    Hastig kniete er vor ihr nieder und drückte ihre Hand gegen seine Stirn.
    „Vergib mir, Mutter! Vergib mir meinen Kleinmut und meine Zweifel. Jeden Tag flehe ich darum, dass du recht behältst, aber ich bin nur ein schwacher Narr. Ich besitze nicht die Kraft deines Glaubens. Bitte verzeih mir!“
    Ein Funke ihrer alten Stärke glomm in ihrer Seele auf. Sie streichelte ihm sanft übers Haar. „Du bist mein Sohn, Neanden. Es gibt nichts, was ich dir nicht verzeihen könnte.“
    Neanden schloss die Augen, presste ihre Hand noch fester an seine Stirn und wünschte, er könnte das gleiche von seinem Vater sagen.

    Der Morgennebel lag noch in dichten Schleiern über dem Boden des Waldes, als Neanden sich anschickte, das Dorf zu verlassen. Es war ihm lieber, seine Pflichten als Wächter aufzunehmen, solange die meisten der anderen noch schliefen. So musste er wenigstens nicht in ihren Gesichtern und in ihren Herzen lesen, dass auch sie seinen Vater für einen Verräter hielten.
    Doch als er sich gerade dem Rand des Dorfes näherte, spürte er die Präsenz eines anderen herannahen. Er

Weitere Kostenlose Bücher