Wächter des Elfenhains (German Edition)
übertroffen wurde.
Er holte zitternd Luft und starrte durch das dunstige Zwielicht auf die Gruppe von Gestalten, die in einem schlichten Halbkreis mit untergeschlagenen Beinen vor ihm auf der Erde saßen und ihm abwartend entgegensahen. Seine Kehle schien sich mit Sand zu füllen, und seine Rückenmuskulatur verkrampfte sich.
Sie waren alle da. Der gesamte Rat der Ältesten war vollständig versammelt – so vollständig zumindest, wie das in diesen traurigen Zeiten noch möglich war. Früher einmal waren sie 30 gewesen, die 30 weisesten Frauen und Männer des Dorfes, die reinste Verkörperung von Klugheit, Weitsicht und moralischer Integrität, die das Volk der Elfen in seiner Jahrtausende langen Geschichte jemals hervorgebracht hatte; nun war kaum noch die Hälfte von ihnen geblieben. Sie wirkten seltsam verloren in dem großen Raum.
Rilcaron, der Sprecher des Rates, hob sogleich die Hand, als er sie eintreten sah, und winkte ihn zu sich.
„Tritt näher, Neanden.“
Sein Herz begann plötzlich hart gegen seine Rippen zu hämmern, dröhnte wie die Glocke des Jüngsten Gerichts in seinen Ohren. Steif setzte er sich in Bewegung, schritt mit demütig gesenktem Haupt auf die Gruppe der Ältesten zu. Nur mit einem flüchtigen Gedanken registrierte er, dass Gairevel am Eingang der Halle zurückgeblieben war, und sein Mut schwand noch mehr. Was auch immer die Ältesten für einen Grund für dieses rätselhafte Treffen haben mochten, er betraf nur ihn allein.
Er spürte, wie sie ihn beobachteten, wie ihre Blicke wie Nadeln in seine Seele drangen und all seine Ängste und Zweifel, seine zerstörten Hoffnungen und Träume gnadenlos ans Licht zerrten. Sie sondierten seine Gefühle, lasen in ihnen so mühelos wie in den Strömungen des Windes und den wirbelnden Wolkenfetzen am Firmament, die die ersten zarten Ahnungen von Regen oder Sonnenschein, vom kühlen Hauch des Herbstes oder das Versprechen auf den Duft von Blüten und frischen Gräsern nach einem langen, eisigen Winter in sich trugen. Sie kannten seine tiefsten Abgründe und dunkelsten Geheimnisse, wussten um den Hass und die Scham, die in seinem Herzen brannten, und um die Qualen, die ihn Nacht für Nacht schreiend aus seinem Schlaf erwachen ließen.
Seine Schultern sanken herab. Es war sinnlos, irgendetwas vor ihnen verbergen zu wollen, und er versuchte es erst gar nicht. Wenigstens diesen winzigen Rest von Würde wollte er sich bewahren. Er erschauerte, als er in die Aura aus Weisheit und Erhabenheit eintauchte, die von ihnen ausstrahlte wie Hitze von einem lodernden Feuer, und seine Adern schienen sich mit Gletscherwasser zu füllen. Sie standen so unendlich weit über ihm, waren so sehr erfüllt vom Wissen um ihre Macht und Bedeutung, von der Erwartung demütigen Respekts und selbstverständlicher Unterwerfung, dass es ihn beinahe körperlich schmerzte. Verglichen mit ihnen war er nicht mehr als ein Wurm, der im Schatten von mächtigen, uralten Eichen herumkroch, Eichen, deren Wurzeln bis ins Herz der Erde selbst hinabreichten und deren hohe Wipfel mehr gesehen hatten als alle Vögel am Firmament, mehr als die Sonne und der Wind, der die flüsternden Stimmen ferner Länder mit sich brachte, und die Wolken, die, unbeeindruckt vom Werden und Vergehen allen Lebens, in majestätischer Lautlosigkeit über das Land zogen.
Mit jedem weiteren Schritt drückte ihn das Gewicht ihrer Gegenwart tiefer zu Boden, spürte er deutlicher die Erfahrung der Jahrtausende, die wie eine unsichtbare Woge über ihn hinwegrollte. Niemals war ihm mehr als in diesem Moment bewusst gewesen, wie winzig und unbedeutend er tatsächlich war und wie armselig der Beitrag, den er seinem Volk in seinem grausamen Überlebenskampf zu bieten hatte. Wahrhaftig, er war keine Eiche; er war lediglich ein kleiner Sprössling, der eben begonnen hatte, den ersten Hauch von fester Rinde zu bilden, bar jeglichen Nutzens für die Gemeinschaft und alle, die ihr Wohl leichtfertig in seine Hände gelegt hatten.
In angemessenem Abstand zu ihnen kniete er nieder, neigte den Kopf noch tiefer und blickte stumm zu Boden. Er würde warten, schweigend und demütig, bis sie das Wort an ihn richteten. Doch als er spürte, wie noch jemand den Saal betrat, hätte er beinahe jegliche Tradition vergessen und mit großen Augen über seine Schulter zum Eingang gestarrt.
Maifell de’Sionne – er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie es war, die hereinkam. Ihr Wesen war so rein wie das Licht der Sonne und so
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