Wächter des Elfenhains (German Edition)
fuhr er sich mit einer Hand über die Stirn. Obwohl es im Hain niemals wirklich kalt war, schlugen seine Zähne klappernd aufeinander, und seine Glieder schlotterten, als sei alle Wärme, die es jemals in seinem Leben gegeben hatte, schon seit Langem aus seinem Körper verschwunden und habe nichts als Dunkelheit und graue Asche in ihm zurückgelassen.
Grimmig ballte er die Fäuste, bohrte sich die Fingernägel ins Fleisch, bis seine Handballen schmerzhaft zu pochen begannen. Wie er sie hasste, diese Träume, diese schrecklichen Gespenster der Vergangenheit, die in den trostlosen Ruinen seines Lebens hausten, die Nacht für Nacht aus den Schatten hervorkrochen, um mit ihren toten, anklagenden Augen und blutbesudelten Leibern in einer grausigen Parade durch die kalten, staubigen Hallen und Korridore seines Geistes zu defilieren. Selbst jetzt noch spürte er ihre Blicke, die in stummem Vorwurf auf ihm ruhten, spürte die Furcht, die Verzweiflung und das Entsetzen, die wie eine schwarze Woge über ihn hinwegspülten, und ein ersticktes Schluchzen entrang sich seiner Kehle.
Seine Träume kannten die Wahrheit. Es war sinnlos, vor ihnen davonlaufen zu wollen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, wenn die kalten Klauen des Schlafs ihn packten und in die Dunkelheit rissen, zurück zu jenem grauen, nebligen Morgen, der alles zerstörte, woran er jemals geglaubt hatte, spürte er, wie das Gewicht seiner Schuld sich auf ihn herabsenkte – eine Schuld, die mit jedem Jahr, das verstrich, schwerer auf seinen Schultern lastete. Es war der Morgen, an dem seine Jugend endete, an dem alle seine Hoffnungen und Träume mit einem einzigen brutalen Schlag zerschmettert wurden; der Morgen, an dem der Tod in sein Leben trat.
Jede Nacht war er dort, sah sich selbst, wie er nichts ahnend die Tür zum Haus seiner Tante öffnete, sah, wie seine Augen vor Überraschung und Erschrecken groß wurden, als ihm der überwältigende Geruch nach Blut entgegenschlug und er begriff, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste. Spürte die Panik, als er mit klopfendem Herzen von Raum zu Raum eilte und sie schließlich neben ihrem Bett auf dem Boden fand, ihr blutüberströmter Körper ausgeweidet wie ein Stück Vieh, ihr Gesicht zu einer verzerrten Maske des Grauens erstarrt. Ihre wunderschönen blauen Augen, die ihn immer mit so viel Zuneigung und Wärme betrachtet hatten, waren ihr im Todeskampf aus den Höhlen gequollen und starrten blicklos und stumpf gegen die Decke, und ihr klaffender Mund hatte sich zu einem lautlosen Schrei geöffnet – einem Schrei voller Entsetzen und Qual, der für immer in ihrer Kehle verschlossen geblieben war. Denn ihr Schlächter hatte nicht zugelassen, dass auch nur ein einziger wimmernder Laut über ihre Lippen drang, der irgendjemanden auf das grässliche Verbrechen hätte aufmerksam machen können, während er ihr in aller Ruhe ihr Kind aus dem Leib schnitt und ihr danach die Klinge seines Messers in ihr zuckendes Herz rammte.
Neanden stöhnte auf, dann schlug er mit einem jähen Ruck seine Decke zurück und schwang seine Beine aus dem Bett. Obwohl die Dunkelheit vor dem Fenster erst zaghaft dem Licht des neuen Morgens zu weichen begann und der Mond noch immer als schmale Sichel über den Wipfeln der Bäume am Horizont hing, würde er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden. Leise kleidete er sich an und trat hinaus auf den breiten Ast der mächtigen Eiche, deren dichtes Blätterdach seiner Familie bereits seit Generationen als Heimstatt diente – zumindest dem kläglichen Rest, der davon noch übrig war.
Neanden straffte seine Gestalt und atmete tief durch. Er schloss die Augen, ließ sich von der Stille des nächtlichen Waldes umfangen und lauschte dem leisen Flüstern des Windes in den Blättern der Bäume, das er als Kind so sehr geliebt hatte. Doch das Licht, das ihm in seiner Kindheit Trost gespendet hatte, war schon vor langer Zeit erloschen, und es würde niemals wieder brennen. Denn wo die Nachtluft ihn früher sanft umschmeichelt und das warme Gefühl von Geborgenheit und Schutz in sich getragen hatte, so barg sie nun nur noch das Versprechen auf Zerstörung und Tod, ein kalter Hauch, der wie ein unsichtbares Leichentuch über allem schwebte. Auch dies war Ogaires Werk.
Neanden erbebte, als jäher Hass in ihm emporquoll und sich sein Magen vor Verzweiflung und hilfloser Wut zusammenzog. Gleichzeitig spürte er, wie Tränen der Scham in seine Augen stiegen. Denn mochte es auch Ogaire gewesen sein,
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