Wächter des Elfenhains (German Edition)
das eine weise Entscheidung? Haben wir Opfer vermieden? Seit der Rat darauf wartet, dass Ogaire irgendwann zufällig in der Menschenwelt seinen Tod findet und sein unsäglicher Zauber erlischt, haben wir die Hälfte unseres Volkes verloren, ist dir das eigentlich klar?“
Neanden ballte die Hände zu Fäusten. Für wie dumm hielt sie ihn? Doch auch wenn er sich der Wahrheit in ihren Worten nicht zu verschließen vermochte, stand es ihnen nicht zu, die Beschlüsse des Rates in Zweifel zu ziehen. Zitternd holte er Luft.
„Ich habe immer geglaubt, du verachtest mich, weil ich der Sohn eines Verräters bin“, sagte er leise. „Aber das stimmt nicht, nicht wahr? Du tust es nicht, weil Ionosen mein Vater ist, sondern weil ich ihm nicht vergeben kann. Für dich bin ich nur ein Feigling, der sich hinter überkommenen Traditionen versteckt, weil er nicht den Mut hat zu handeln.“ Er hob den Blick, ließ sie all seine Enttäuschung und seinen Schmerz darin lesen. „Du stößt mich zurück, weil ich nicht so bin wie er, habe ich recht? Weil ich nicht seine Klasse habe!“
Er spürte, wie ihr Zorn von ihr abfloss und sah, wie ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen erschien. Beinahe behutsam legte sie ihm eine Hand auf die Schulter, und er erschauerte.
„Ich verachte dich nicht, Neanden. Wirklich nicht. Aber die Art, wie wir die Welt sehen, ist zu unterschiedlich. Ich wollte vor dem Rat nicht so offen davon sprechen, aber zu dem, was ich dort gesagt habe, kommt noch eines hinzu: So, wie die Dinge im Augenblick stehen, kann ich nicht den Mann in dir sehen, der mein Gemahl werden könnte.“
Neanden wich vor ihr zurück, wich zurück vor dem Mitleid, das in ihrer Stimme lag. Ein gequältes Schluchzen stieg in seiner Kehle empor, doch er würgte es gewaltsam wieder herunter. Er öffnete den Mund, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, nach irgendetwas, das es ihm erlaubte, wenigstens einen winzigen Rest seiner Würde zu wahren und nicht wie ein geprügelter Hund davonzukriechen, um sich winselnd in irgendeine Ecke zu drücken. Doch bevor er noch etwas erwidern konnte, wehte plötzlich ein glockenhelles Klingen durch seine Seele, eine Melodie von so unendlicher Süße und Zartheit, dass jede einzelne Zelle seines Körpers vor unbändiger Freude und Lebenslust zu jubilieren schien. Er zuckte zusammen und riss ungläubig die Augen auf. Auch Maifell hob den Kopf, schien ebenso zu lauschen wie er selbst.
„Der Ruf des Hains“, flüsterte sie ergriffen.
So lange war er nicht erklungen, so lange hatte Neanden vergeblich darauf gehofft, ihn zu hören, doch selbst das konnte die Bitterkeit in seinem Herzen nicht tilgen.
„Ich muss jetzt gehen“, erklärte er schroff. „Auch wenn du es nicht schätzt, mir liegt noch immer viel daran, meine Pflichten zu erfüllen.“
Damit ließ er sie stehen, stürmte aus dem Dorf und eilte so schnell, wie es nur ein Elf vermochte, dorthin, wo der Hain an die Menschenwelt grenzte.
9. Kapitel
Bereits mit dem ersten Schritt in den Dunst war der Anblick des Parks erloschen, so als sei er nie etwas anderes gewesen als ein altes Dia, das von einem lichtschwachen Projektor gegen eine verwaschene graue Leinwand geworfen wurde. Strukturloser Nebel umhüllte Andion, stemmte sich ihm wie eine unsichtbare Strömung entgegen, eine Strömung, die ihn zurück in die Menschenwelt treiben wollte. Doch er folgte unbeirrbar dem Ruf des Hains. Wenige Schritte später brach der Widerstand, der Nebel lichtete sich, und im gleichen Moment entfaltete sich der Hain vor ihm, lebendig, strahlend, vital und voller bunter Farben.
Andion war direkt auf einer kleinen Lichtung herausgekommen. Sie war dicht mit hohen, saftigen Gräsern bewachsen, die süß nach Heu dufteten, und so übersät mit Blumen aller Art, dass einem Betrachter allein beim bloßen Anblick der überbordenden Vielfalt und Lebensfreude, die das Füllhorn der Natur über diesem winzigen, verborgenen Fleckchen Erde ausgegossen hatte, vor ehrfürchtigem Staunen der Atem stockte.
Die Lichtung wurde von üppigen Büschen eingefasst, und hinter ihnen standen, stumm und erhaben wie wachsame, weise Eltern, die stets ein gütiges Auge auf das Treiben ihrer Kinder hatten, die Bäume des Hains. Die mächtigen Stämme der Eichen und Buchen, Kastanien und Tannen ragten vor ihm in die Höhe, majestätisch und ewig wie die Erde selbst, schienen mit ihren gewaltigen grünen Wipfeln beinahe das Blau des Himmels zu berühren. Er spürte das Leben, das sich
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