Wächter des Elfenhains (German Edition)
schreiend aus dem Schlaf rissen, all das war in diesem Augenblick vergessen. Tränen der Freude liefen ihm über die Wangen, und sein Herz wollte zerspringen vor Glück. Endlich, endlich hatte er den Platz gefunden, nach dem er sich so lange gesehnt hatte. Endlich war er nach Hause zurückgekehrt.
Schwankend zwischen Panik und banger Hoffnung hastete Neanden der Grenze des Hains entgegen. Er spürte, dass sich Gairevel und einige andere Elfenkrieger ebenfalls auf den Weg gemacht hatten, doch sie waren weit hinter ihm zurückgeblieben. Ein ums andere Mal wäre er beinahe stehen geblieben, um zu warten, bis sie zu ihm aufschlossen, dennoch eilte er weiter, hetzte durch den Wald, obwohl Furcht wie ein Nagel aus Eis in seinem Magen pochte und sein Herz so hart gegen seine Rippen wummerte, als versuche es verzweifelt, das Gefängnis seines Brustkorbs zu sprengen und sich wimmernd in irgendeinem Erdloch zu verkriechen.
Nur zwei Elfen! Es gab nur zwei Elfen, die zurzeit nicht im Hain weilten. Nur zwei, die der Hain zu sich rufen konnte. Einer davon war Ogaire, und wenn tatsächlich er es war, der den Zauber der Ältesten gebrochen und die Grenze zwischen den Welten überschritten hatte, dann schwebten sie alle in höchster Gefahr. In dem Fall wäre es dumm, ohne Verstärkung vorzurücken.
Oder es war sein Vater. Ionosen, der große Elfenprophet, von dem er sicher gewesen war, dass er schon vor Jahrzehnten in der Menschenwelt den Tod gefunden hatte. Der bloße Gedanke zog seinen Magen zu einem harten, pochenden Knoten zusammen und trieb bittere Galle seine Kehle empor. Sollte es wirklich Ionosen sein, den der Hain gerufen hatte, dann musste er ihn allein treffen. Er hatte so viele Fragen, es gab so vieles, was er nicht verstand. Und er würde seine Fragen stellen – und seinen Vater anschließend an den Rat übergeben.
Ein gequältes Stöhnen entrang sich seiner Brust, und ein scharfer Schmerz fuhr wie ein Messer durch seinen Leib, schien ihn in der Mitte entzweizuschneiden. Mit zusammengebissenen Zähnen presste er eine Hand auf seinen pochenden Magen und trieb sich noch schneller voran. Warum nur zwang sein Vater ihn zu einer derart grausamen Entscheidung? Warum zwang er ihn, ihn wie einen räudigen Hund vor das Tribunal der Ältesten zu schleifen und damit dem kläglichen Rest seiner Familie endgültig den Todesstoß zu versetzen? War er nicht ein Prophet? Wusste er nicht, dass Neanden nun der Wächter des Hains war? Dass er keine andere Wahl hatte, als ihn wie einen Feind zu behandeln, sich ihm in den Weg zu stellen und ihn gefangen zu nehmen, sobald er nach beinahe 100 Jahren zum ersten Mal wieder einen Fuß auf den Boden seiner Heimat setzte? Wieso, bei allen Bäumen, tat er ihm das an? Wieso? Wieso war er überhaupt gegangen?
Er zuckte zusammen, als er spürte, wie ein einzelner Elf die Grenze passierte und den Hain betrat. Wieder verspürte er das beinahe übermächtige Verlangen, einfach stehen zu bleiben, musste er all seine Willenskraft aufbieten, um sich nicht auf dem Absatz herumzuwerfen und zu rennen, weiter und immer weiter, fort von den Gespenstern, die aus dem Dunkel der Vergangenheit nach ihm griffen, und dem Augenblick der Wahrheit, den er so viele Jahre herbeigesehnt hatte.
Grimmig ballte er die Hände zu Fäusten, bohrte sich seine Fingernägel ins Fleisch, bis Blut über seine Handgelenke zu rinnen begann, und stürmte trotzig weiter voran. Er kannte seine Pflicht, und er würde sie erfüllen, auch wenn es ihm nicht gefiel. Er war nicht wie Maifell. Er war nicht so feige wie sie und trat die Tradition mit Füßen, nur weil er ein wenig Schmerz für sich selbst fürchtete. Und doch betete er zu allen Mächten der Schöpfung, dass es Ogaire sein möge, dem er in wenigen Momenten gegenüberstehen würde.
Als er die ersten Blütenfeen bemerkte, die sich überall um ihn herum aus den Blumen und dem dichten Blattwerk der Büsche und Sträucher erhoben, und die Freude spürte, die plötzlich die Luft erfüllte und wie die Wellen eines in jähen Aufruhr geratenen Ozeans von allen Seiten über ihn hinwegspülte, wusste er, dass seine Hoffnung vergeblich sein würde. In dichten Wolken strömten sie herbei, und sie schienen nur ein Ziel zu kennen: die Lichtung, auf der jeder Eindringling, der die Grenze zum Hain überschritt, unweigerlich herauskommen musste. Grimmig tauchte er in ihr Singen und Jubilieren ein, durchschnitt wie ein düsterer Sturmwind ihren ausgelassenen Tanz und wirbelte sie
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