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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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durcheinander, doch sie beachteten ihn gar nicht. Zu Hunderten, Tausenden stiegen sie in die Luft empor, verließen in heller Aufregung ihre Ruheplätze und Verstecke, und selbst Wesen, die sonst das Licht der Sonne scheuten, huschten neugierig durch die Schatten.
    Seine keuchenden Atemzüge und das Rauschen seines Blutes dröhnten ihm zu laut in den Ohren, als dass er all die feinen Stimmchen hätte verstehen können, deren Tuscheln und Flüstern den Wald bis in den verborgensten Winkel und das winzigste Astloch mit vibrierender, freudiger Erwartung zu erfüllen schien, erst als er den Rand der Lichtung erreichte und die einzelnen Stimmen sich zu einem mächtigen Chor vereinten, hörte er es. Nur ein Wort, ein einziges Wort war es, das sie sangen, doch Neanden zuckte zusammen, als habe ihm jemand einen Pflock aus Eis geradewegs durch sein Herz getrieben.
    „Andion! Andion! Andion!“
    Neanden taumelte, taumelte zurück vor dem Namen und der schrecklichen Wahrheit, die darin verborgen lag. Seine Hände begannen zu zittern, und seine Zähne schlugen klappernd aufeinander, als die Kälte in jede Faser seines Körpers kroch, seine Seele in fassungslosem Entsetzen erstarren ließ.
    Nur ein Elfenprophet durfte einem Elfenkind den Namen Andion geben. War sein Vater etwa deshalb gegangen? Hatte er sein Kind und seine Frau verlassen, damit er sich in der Menschenwelt eine andere Gemahlin suchen und einen Menschenbastard zeugen konnte? Und er gab ihm den Namen Andion, den heiligen Namen, den bislang nur die größten und ehrbarsten Elfen getragen hatten?
    Steif trat Neanden auf die Lichtung hinaus. Noch konnte er nicht sehen, wer dieser Andion war, zu viele Sylphen und Blütenfeen versperrten ihm die Sicht. Doch als sie ihn kommen sahen, wichen sie vor ihm zurück, und eine Gasse öffnete sich für ihn – eine Gasse, die direkt zum Herzen der Lichtung führte.
    Dort sah er ihn. Ein Junge mit schwarzem Haar kniete auf dem Boden. Seine Hände ruhten locker in seinem Schoß, die Handflächen waren nach oben gedreht. Neanden keuchte auf, und bitterer Schmerz grub sich noch tiefer in seinen Leib. Er konnte nicht glauben, was er sah, aber er vermochte es auch nicht zu leugnen. Denn in der linken Hand des Jungen saß, in einen sanften goldenen Schimmer gehüllt, ihre filigranen Flügel anmutig auf dem Rücken gefaltet, die Königin der Blütenfeen, in seiner rechten der König der Sylphen, scheue, misstrauische Wesen, die selbst das Volk der Elfen so gut wie niemals zu Gesicht bekam. Doch hier auf der Lichtung, in Gegenwart dieses seltsamen Fremden, benahmen sie sich wie zwei Schoßhündchen, die in hirnloser Verzückung vor ihrem Herren im Staub herumkrochen und schwanzwedelnd um einen hingeworfenen Knochen bettelten.
    Neanden presste die Lippen zusammen und trat mit ein paar schnellen Schritten auf den Eindringling zu.
    „Wer bist du?“, raunzte er schroff.
    Zufrieden sah er, wie der Junge zusammenzuckte. Offenbar hatte er ihn bisher noch gar nicht bemerkt gehabt. Nun hob er den Kopf und wandte sich ihm zu. Er öffnete den Mund, sagte etwas.
    Doch Neanden hörte gar nicht hin. Fassungslos starrte er in die irisierenden grünen Augen des Fremden, Augen von der Farbe junger Blätter im Sonnenschein, von tanzenden Wolkenschatten über rauschenden Baumwipfeln und Gräsern, über die der warme Sommerwind strich. Augen, die er schon so oft gesehen hatte und niemals wieder vergessen konnte. Ogaires Augen!
    Neanden schlug zu, ohne zu überlegen. All sein Zorn, all sein Hass auf Ogaire ballten sich zu einem tödlichen Willen zusammen, einem Willen, der seine Magie wie eine Woge aus Feuer über den Jungen kommen ließ. Ein gequälter Schrei entrang sich der Kehle des Fremden, und er krümmte sich zusammen. Die Sylphen und Blütenfeen stoben erschrocken auseinander und schwirrten wie zornige Insekten um ihn herum, zeterten und kreischten vor Empörung und hilfloser Wut, doch Neanden beachtete sie nicht. Die Lichtung, der Wald, alles versank in einem düsteren roten Nebel. Er sah nur noch seinen Feind, sah nur noch diese widerwärtigen grünen Augen, die ihn so oft in seinen Träumen verfolgt hatten, spürte nur noch seinen Hass, der heiß und pulsierend durch seine Adern strömte.
    Andion! Was für ein Hohn! Wen wollten sie mit diesem Namen täuschen? Was für eine Hoffnung könnte es geben von einer Kreatur wie dieser dort? Ogaires Sohn würde ihnen nur eines bringen. Aber das würde er nicht zulassen. Er würde nicht zulassen, dass

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