Wächter des Elfenhains (German Edition)
Zeigefinger nahm und zu ziehen begann. Überrascht bemerkte er, wie viel Widerstand sie ihm entgegensetzte. Selbst sein grobschlächtiger Peiniger Kenneth hätte sie vermutlich um nicht mehr als eine Handbreit zu spannen vermocht.
Aber er war stets stärker als Kenneth gewesen; auch das bewirkte das Elfenblut in ihm. Und es tat noch mehr. Denn als er schließlich mit klopfendem Herzen seinen Pfeil auf die Sehne legte, unter den frostigen, feindseligen Blicken der Elfen den Bogen zum Schuss spannte und an der Spitze des Pfeils entlang ins schattige Zwielicht des Waldes spähte, war ihm selbst die winzigste seiner Bewegungen so unendlich vertraut, als habe er seit seiner Geburt niemals etwas anderes getan, als lässig wie Legolas auf den Zinnen von Helms Klamm mit seinem Bogen herumzuwirbeln und grunzenden Orks und Trollen das Fürchten zu lehren.
Vertraue auf dein Erbe.
Ionosens Rat. Andion holte tief Luft, lockerte die Muskeln seines Rückens und seiner Schultern, dann richtete er seinen Blick nach innen, schloss die Augen und beschwor das Bild der Windgeister herauf, die ihn so freudig empfangen hatten. In aller Demut sprach er sie zum ersten Mal von sich aus an, bat sie um Hilfe und Unterstützung bei der Aufgabe, die vor ihm lag.
Sie antworteten ihm sofort. Ein leichter Wind strich durch sein Haar, zupfte verspielt an einer Strähne, die ihm in die Stirn gefallen war. Doch noch wartete er, wartete, bis er die leisen, singenden Stimmen der Sylphen deutlich hören konnte, wartete auf ihr Zeichen.
Der Chor der Stimmen schwoll plötzlich an, dann ging ein jäher Ruck durch den Bogen, als werde er von tausend unsichtbaren Händchen gleichzeitig gepackt und energisch in eine bestimmte Richtung gedrückt. Beinahe erschrocken ließ Andion die Sehne los, und der Pfeil schnellte davon. Die Sylphen jagten dem Geschoss hinterher und fingen es ein, und noch ehe Andion begriff, wie ihm geschah, war die ganze singende und jubilierende Schar zusammen mit einem letzten silbrigen Aufblitzen von Licht im dichten Unterholz des Waldes verschwunden. Er wusste, dass er getroffen hatte, lange bevor der Elf mit dem kleinen Holzstück zurückkehrte. Der Pfeil hatte es exakt in der Mitte durchbohrt.
Rilcaron betrachtete die winzige Scheibe einen Moment lang mit unbewegter Miene, dann tauschte er einen stummen Blick mit den anderen Mitgliedern des Rates. Obwohl nur Sekunden verstrichen, ehe er sich wieder zu ihm umwandte, erschien es Andion wie eine Ewigkeit – eine Ewigkeit, in der er, zitternd vor Erleichterung, Triumph und lähmender Furcht, mit seinem Kopf auf dem Richtblock lag und mit angehaltenem Atem auf sein Urteil wartete, während der Scharfrichter über ihm bereits seine Klinge wetzte.
Wie würden sie entscheiden? Würden sie ihn nun endgültig als Sicherheitsrisiko einstufen und kurzen Prozess mit ihm machen? Oder würden sie ihm die Gelegenheit geben zu beweisen, dass sie Ionosens Worten vertrauen konnten, dass er kein Monster war, das nur darauf lauerte, ihnen im Schlaf die Kehlen durchzuschneiden und ihr Blut auf dem Altar seiner finsteren Pläne zu opfern? Eines jedoch wusste er mit Gewissheit: Egal ob sie ihn nun an Ort und Stelle umbrachten oder einfach aus dem Hain warfen und die Tür hinter ihm verrammelten, beides würde letztlich seinen Tod bedeuten.
Rilcaron starrte ihn an wie einen Käfer, der gerade aus einem Kuhfladen gekrochen war und sich nun anschickte, über seine frisch polierten Stiefel zu krabbeln. „Du kannst bleiben – zumindest so lange, bis dein Körper und dein Geist genügend gestärkt sind, um außerhalb des Hains überleben zu können. Doch dann musst du in die Welt der Menschen zurück.“
Andion atmete auf. Doch noch wollte die Angst nicht von ihm weichen. „Darf ... darf ich wiederkommen, wenn der Hain mich erneut zu sich ruft?“
Rilcaron nickte. „Ja. Das darfst du.“
Andion schloss kurz die Augen, dann neigte er tief den Kopf. „Ich danke Euch.“
Rilcaron schüttelte den Kopf. „Für einen Dank besteht kein Grund. Wir akzeptieren lediglich, dass du das Recht hast, dich im Hain aufzuhalten, aber das heißt nicht, dass du uns willkommen bist. Solange du hier bist, wirst du mit niemandem sprechen und dich von allen Elfen fernhalten. Neanden und Gairevel werden stets in deiner Nähe sein, und du wirst keinen Schritt ohne ihre Erlaubnis tun. Solltest du dich ihren oder einer unserer Anweisungen nicht auf der Stelle beugen, sind sie berechtigt, jede erdenkliche Maßnahme zu
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