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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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kostbare Augenblick der Intimität, der nur ihnen allein gehörte, zerstört wurde. Solange sie hier im düsteren Flur ihrer Wohnung standen und einander festhielten, gab es keinen Ogaire, keine Bestie, die in der Finsternis lauerte und nach ihrem Blut gierte, sondern nur zwei Menschen, die sich in einer kalten Welt gegenseitig ein klein wenig Wärme und Geborgenheit gaben.
    In den Stunden danach erzählte er ihr, wie es ihm im Hain ergangen war, doch nicht einmal jeder dritte Satz entsprach der Wahrheit. Obwohl es ihn schmerzte, so viele der tatsächlichen Geschehnisse vor ihr geheim halten zu müssen, hatte er keine andere Wahl. Er konnte ihr unmöglich berichten, wie die anderen Elfen ihn empfangen hatten, und ganz sicher konnte er ihr nichts darüber sagen, dass er bereits nach wenigen Minuten von Ionosens Sohn in einem Anfall von Raserei beinahe dahingemeuchelt worden wäre. Es war nur gut, dass sie seine Lügen nicht spüren konnte. Ionosen allerdings konnte er nicht täuschen. Je länger er sprach, desto nachdenklicher wurde seine Miene, und Andion spürte den Kummer, der sich wie ein düsterer Schatten um ihn legte.
    Später, schon tief in der Nacht, als seine Mutter endlich Schlaf gefunden hatte, ging er die Treppe zu Ionosens Wohnung hinunter. Das hatte er nie zuvor getan, und Ionosen hatte ihn niemals dazu aufgefordert. Doch diesmal war natürlich alles anders, und es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass Ionosen bereits die Tür für ihn öffnete, noch bevor er die letzten paar Stufen gänzlich hinabgestiegen war.
    Kaum eine Minute später saßen sie in einem kleinen, vollkommen schmucklos eingerichteten Raum auf einer alten, ebenso schlichten Couch, und Andion begann seine Geschichte noch einmal von vorn – die ganze Geschichte, mit all ihren hässlichen Details und bitteren Wahrheiten, die er bisher verschwiegen hatte.
    Ionosen unterbrach ihn kein einziges Mal, obwohl Andion spürte, wie Schmerz und Enttäuschung in ihm wuchsen, vor allem als er auf Neandens unrühmliche Rolle bei den traurigen Ereignissen zu sprechen kam.
    Als er schließlich geendet hatte, senkte sich ein bedrückendes Schweigen auf sie herab. Andion starrte beklommen zu Boden, suchte verzweifelt nach ein paar Worten des Trostes, nach irgendetwas, das der Klinge, die er in Ionosens Seele getrieben hatte, ein wenig von ihrer grausamen Schärfe zu nehmen vermochte, doch er fand nichts. Er besaß nicht die Macht, Ionosens Qual zu beenden, konnte nicht rückgängig machen, was geschehen, nicht wieder zusammenfügen, was unwiderruflich zerbrochen war. Denn hatte sich Ionosen auch damals in voller Bewusstheit gegen die Entscheidung des Rates gestellt und den Hain und seine Familie verlassen, so schien er doch erst jetzt zu begreifen, was dieser Verlust tatsächlich bedeutete. Natürlich war er kein Narr, und ganz gewiss war er niemand, der dazu neigte, sich selbst etwas in die Tasche zu lügen, aber durch Andions Erzählung zu erfahren, was 90 Jahre des Hasses aus seinem Sohn gemacht hatten – was gerade der Verrat seines Vaters aus ihm gemacht hatte -, schien ihn bis ins Mark zu erschüttern. Vielleicht hatte er bis zuletzt tief in seinem Inneren darauf gehofft, Neanden könnte die Gründe akzeptieren, die ihn dazu bewogen hatten, denen, die er liebte, in der Stunde ihrer größten Not und Verzweiflung den Rücken zu kehren; ihnen die Stütze seiner moralischen Integrität und Weisheit, seiner Kraft und inneren Stärke zu entziehen, derer sie gerade in diesem schrecklichen Augenblick ihres Lebens so dringend bedurft hätten. Doch in Neandens Herz gab es keine Vergebung; es gab nur Bitterkeit, Zorn und Hass. Und es war nicht nur Ogaire, der dafür verantwortlich war.
    Andion räusperte sich. „Ohne Esendion und Alisera wäre ich vermutlich noch stundenlang im Park herumgeirrt, ohne den richtigen Ausgang zu finden“, sagte er und kam sich bei dem Versuch, Ionosens düstere Gedanken auf ein emotional ungefährlicheres Terrain zu locken, plump und unbeholfen vor. „Sind es tatsächlich Elfen – so wie du?“
    Ionosen betrachtete ihn einen Moment lang stumm mit seinen traurigen blauen Augen, als versuche er die Ernsthaftigkeit seiner Frage abzuschätzen, dann glitt ein schwaches Lächeln über sein Gesicht. „Ja, das sind sie. Schon vor Jahrhunderten haben sie sich dazu entschlossen, ihre wahre Gestalt aufzugeben und als Schwäne in der Welt der Menschen zu leben.“
    „Warum?“ Andion konnte sich beim besten Willen nicht

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