Waechter des Labyrinths
Sichtweite. Das schummrige Licht wurde schwächer, als er die Öffnung gefunden hatte. «Sind Sie dadrin?», reizte er sie. «Warten Sie vielleicht auf mich?»
«Hauen Sie ab», entgegnete Gaille.
«Ich werde Ihnen nicht wehtun, wenn ich reinkomme. Sie haben mein Wort.»
«Ich sagte, hauen Sie ab.»
Es wurde noch dunkler, und sie hörte, wie er sich stöhnend durch den engen Höhleneingang zwängte. Gaille hob die Spitzhacke, bereit, sie jederzeit niedersausen zu lassen. Vielleicht hatte er sie gehört oder ihre Füße gesehen; jedenfalls musste ihm klargeworden sein, wie angreifbar er in dieser Position war. Er hielt inne und zog sich dann zurück. In der Höhle wurde es wieder heller. Gaille setzte die Spitzhacke auf dem Boden ab, hielt den Stiel aber fest umklammert. Es würde bestimmt nicht lange dauern, bis er es erneut versuchte.
ZWEIUNDVIERZIG
I
Nico hielt sein Telefon eine ganze Weile in beiden Händen, als wäre es ein Talisman, als hätte es die Kraft, Fragen zu beantworten. Und vielleicht hatte es das auch.
Jedes Menschenleben wurde in der Kindheit festgelegt, glaubte er. Ganz zu Recht sprach man von den prägenden Jahren. Man aß zum ersten Mal ein Gericht, dessen köstlicher Geschmack einen überraschte. Die erste Liebe, der erste Beifall. Magische Momente, nach denen man sich so sehr zurücksehnte, dass man sein gesamtes Leben danach ausrichtete.
Nico hatte seinen prägenden Moment während eines Urlaubs auf dem Peloponnes gehabt. Sein Bruder war der Klassenstreber gewesen und hatte ihren Vater überredet, mit der Familie eine Rundreise nach Mykene, Epidauros, Korinth und zu anderen antiken Stätten zu machen. Nico hatte sich dermaßen gelangweilt, dass es für ihn eine Qual gewesen war. Dann hatten sie Olympia besucht, den Ort der antiken Wettkämpfe. Damals hatte es noch keinen Touristenboom gegeben, und sie waren die Einzigen dort gewesen. Noch mehr verfluchte Ruinen! Was machen sich die Leute bloß daraus? Er hatte sich davongestohlen und war zu einer hohen Grasböschung gelangt, durch die ein kurzer Gewölbegang führte. Als er hindurchgegangen war, hatte er sich plötzlich im antiken Stadion wiedergefunden. Noch immer konnte er sich genau an diesen Moment erinnern: das Strahlen der Sonne, die Grasböschung für das Publikum und die riesige Arena, die mit dem edlen Geist von Wettkampf und Leistung erfüllt war. Von Größe . Bis zu diesem Moment hatte er nie genau gewusst, was die Leute mit Atmosphäre meinten. Er hatte nie an Übersinnliches geglaubt. Doch das alles hatte sich in einem einzigen Augenblick geändert. In diesem Moment war sein Traum entstanden, ein olympischer Athlet zu werden, und als ihn dieser Traum enttäuscht hatte, hatte er sich der Archäologie zugewandt, weil an jenem Tag auch seine Liebe zum antiken Griechenland geboren worden war.
Und diese Liebe verdankte er seinen Eltern.
Als es schließlich in der Leitung zu tuten begann, wirkte der Ton langgezogener und tiefer als sonst, so als würde sich die Zeit dehnen. Beim fünften Klingeln hätte er beinahe aufgelegt, doch dann wurde am anderen Ende abgenommen. «Hallo?», sagte ein Mann.
«Hallo, Vater», sagte Nico mit trockenem Mund. «Ich bin’s.»
Stille setzte ein, eine ungläubige Stille, wenn Stille eine solche Eigenschaft haben konnte. Dann: « Nico ?»
«Ja.» Die Stille dauerte unerträglich fort. Zu viel Zeit war vergangen. Es war ein Fehler gewesen. «Tut mir leid», platzte es aus ihm heraus. «Ich hätte nicht …»
«Nein!», sagte sein Vater. «Leg nicht auf. Bitte, leg nicht auf.»
«Ich wollte mit dir reden», sagte Nico. «Ich wollte euch sehen. Vielleicht zum Mittag, dachte ich.»
«Natürlich. Deine Mutter und ich … also, wir kriegen Besuch. Die Milonas. Erinnerst du dich an sie?»
«Ja.»
«Wir sagen ihnen ab. Sie werden nichts dagegen haben.»
«Nicht meinetwegen. Aber vielleicht komme ich einfach dazu. Ich würde sie auch gerne wiedersehen. Es ist lange her.»
«Natürlich, natürlich. Ich werde es gleich deiner Mutter sagen. Sie will bestimmt nachschauen, ob wir genug zu essen haben. Und Nico …»
«Ja?» Er wartete, aber sein Vater sagte nichts mehr. Erst nach einem Augenblick wurde Nico klar, dass sein Vater nicht sprechen konnte, weil er sich sonst verraten hätte. Es war seltsam und auch verstörend, seinen Vater weinen zu hören. Er hatte immer wie die Stärke in Person gewirkt. «Schon in Ordnung», sagte er.
«Nein, es ist nicht in Ordnung», schluchzte sein Vater.
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