Waechter des Labyrinths
Gaille.
«Ja», meinte Nico lächelnd. «Denn in der griechischen Überlieferung wird noch ein anderes Goldenes Vlies erwähnt. Obwohl es wesentlich unbekannter ist, kann man wohl eher davon ausgehen, dass es dieses Vlies wirklich gegeben hat. Und das Faszinierende ist, dass es angeblich in Eleusis aufbewahrt wurde. Wussten Sie, dass jeder, der Griechisch sprach und es sich leisten konnte, in Eleusis eingeweiht werden konnte, selbst ein Sklave? Doch es gab eine Ausnahme: Menschen mit Blut an den Händen. Also Mörder. Bevor sie teilnehmen durften, mussten sie sich einer Reinigungszeremonie unterziehen. Die Italiener haben uns für die Konferenz freundlicherweise ein Gefäß geliehen, auf dem Herkules bei der Reinigung dargestellt wird. Vielleicht haben Sie es sogar gesehen. Er sitzt auf einem Thron, und raten Sie, was darüberhängt?»
«Ein Goldenes Vlies?», meinte Knox.
«Ein Goldenes Vlies», bestätigte Nico. «Das Interessante an Eleusis ist natürlich, dass wir kaum etwas darüber wissen, was während der Zeremonie wirklich geschah. Wir wissen aber mit Sicherheit, dass der Versammlung mehrere heilige Gegenstände gezeigt wurden. Ist es nicht möglich, dass das Vlies dazugehörte?»
«Aber ich dachte, dass Petitier seine Entdeckungen auf Kreta gemacht hat», sagte Knox. «Warum sollte das Vlies dort gewesen sein?»
«Auch das ist plausibler, als Sie vermutlich annehmen. Zum einen spielt Kreta in der Legende der Argonauten eine maßgebliche Rolle. Dort begegnet Jason dem Bronzeriesen Talos. Und nicht wenige Gelehrte glauben, dass zumindest ein Teil der Legende vom Vlies ursprünglich aus Kreta stammt. Außerdem gab es sehr starke Verbindungen zwischen Eleusis und Kreta. Der Mythos von Demeter und Persephone ist zweifellos kretisch: Unter anderem wird in den Dichtungen Homers, unseren besten Quellen für die Mysterien, ganz klar gesagt, dass Demeter aus Kreta stammte. Die früheste Erwähnung von Dionysos stammt ebenfalls aus Kreta. Sein Name bedeutet ‹Dio-Nysa›, also ‹Gott von Nysa›, und Nysa lag höchstwahrscheinlich auf Kreta. Natürlich hatte er wie eine Menge anderer Götter viele Gesichter. Das heißt, er war nicht nur Dionysos, sondern auch Zeus und Poseidon. Als Gott des Meeres war Poseidon für die Minoer lebenswichtig. Und denken Sie daran, dass es Poseidon war, der den goldenen Widder geschickt hat, um Phrixos und Helle zu retten.»
«Ist das nicht ein bisschen dünn?»
«Wie wäre es dann damit: Die Familien der Hohepriester in Eleusis nannte man Eumolpidai, nach ihrem Vorfahren Eumolpos, dem ersten Hohepriester, der aus Kreta gekommen war. Auch die Hohepriesterinnen stammten von kretischen Familien ab. Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, wie Sie sich vorstellen können. Die Mysterien wurden seit der frühen mykenischen Phase im ganzen Mittelmeerraum gefeiert, seit dem Ende der minoischen Zeit. Der Zusammenbruch der minoischen Kultur scheint mit aller Wahrscheinlichkeit durch die Eruption der Vulkaninsel Thera herbeigeführt worden zu sein, der größten Naturkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Deshalb kann man sich sehr gut eine Art Diaspora vorstellen, bei der minoische Priester mit einer solchen Eile von Kreta an die Küsten des Mittelmeers fliehen mussten, dass sie ihre heiligen Schätze zurückließen. Und wenn Ihnen das noch nicht reicht, dann gibt es zumindest gute Gründe für die Annahme, dass die geweihten Familien ihre Verbindungen zu Kreta aufrechterhalten haben. Erscheint es nicht logisch, dass sie dort Zuflucht gesucht haben, als Eleusis schließlich vom Christentum bedroht wurde?»
«Wobei sie ihre heiligen Gegenstände mitgenommen haben. Unter anderem das Goldene Vlies.»
«Genau.»
«Und nun hat Petitier es gefunden.»
«Oder er wollte uns das glauben machen.»
«Morgen sollte seine große Enthüllung stattfinden», meinte Knox nickend. «Aber vorher ist ihm jemand in die Quere gekommen.»
ELF
I
Als er sah, wie Knox die Kellnerin um die Rechnung bat, schien ein Ruck durch Nico zu gehen. «Sie müssen mich entschuldigen», sagte er und stemmte sich hoch. «Ich habe bis morgen noch Unmengen zu erledigen. Wirklich Unmengen. Ich muss meinen Vortrag nochmal durchgehen. Den Ablaufplan ändern.» Er winkte ab. «Sie können es sich nicht vorstellen.»
«Natürlich», sagte Knox. «Wir sind dankbar, dass Sie so viel Zeit für uns hatten.»
«Aber nicht doch.» Er fingerte in seinen Taschen nach dem Portemonnaie. Immer tiefere Falten zeichneten sich
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