Wächter des Mythos (German Edition)
leicht bis zum Anschlag drehen. Im ersten Moment hatten sie den Eindruck, als würde es nichts bezwecken, doch dann war deutlich zu sehen, wie sich der Wasserspiegel langsam senkte. Der runde Schacht wurde immer tiefer, bis sie zuletzt ein saugendes Geräusch vom Grund hörten. Stolz strahlten sich beide an.
»Wir brauchen mehr Licht, sonst können wir in dem Schacht nichts erkennen«, sagte Gabriel aufgeregt.
»Ich bin sofort wieder da«, sagte Alina und hatte im Handumdrehen zwei Lampen besorgt.
»Wahnsinn«, staunte Gabriel.
»Ja, der Brunnenschacht ist jetzt mehr als doppelt so tiefe und hat tatsächlich eine große gewölbte Öffnung freigegeben.«
»Wie kommen wir beide da jetzt heil hinunter?«, fragte Gabriel. »Das Rad lässt sich sicherlich wieder einrasten, dann kann ich dich in der Wanne herunterlassen. Doch wie soll ich nach unten kommen?«
»Du musst dich irgendwie mit dem Seil herunterlassen, das dort oben in der Mitte über der dritten Winde läuft.«
Kaum war Alina in der Wanne den dunklen Brunnen hinabgelassen, hatte sie sich mit Leib und Seele in eine Archäologin verwandelt. Ohne weiter an Gabriel zu denken, setzte sie vorsichtig einen Fuß in das kaum knöchelhohe Wasser und watete auf den dunklen Treppenschacht zu.
Entschlossen stieg sie die ausgetretenen Stufen des steilen Schachtes hinauf und kam in eine finstere gemauerte Kammer. Sie ließ den Strahl der Lampe über den felsigen Boden gleiten. Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen. Im Lichtkegel ihrer Lampe blitzte ihr ein menschliches Gerippe entgegen.
Bleich saß es auf dem hervorspringenden Sockel eines steinernen Altars. Ein Schrei entfuhr ihren entsetzten Lippen und beinahe hätte sie auch ihre Lampe fallengelassen. Als sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte, erkannte sie die Maske, die am Schädel des Skelettes befestigt war.
Alina starrte in eine böse grinsende, männliche Fratze. Sie ließ den Lichtstrahl etwas zur Seite schwenkte und erkannte ein weiteres Skelett, das ebenso am Altar lehnte. Seinen Schädel zierte eine weibliche Fratze. Erschrocken wirbelte sie herum, als jetzt vom Treppenschacht laut heranstürmende Schritte zu hören waren.
»Was ist los?«, fragte Gabriel besorgt, als er in ihr entsetztes Gesicht blickte. Da sie ihm die Sicht versperrte, konnte er nicht erkennen, was der Raum verbarg. Dann trat Alina zur Seite, wodurch die makabere Szene in sein Blickfeld rückte. Beim Strahl der starken Lampe war nun deutlich zu erkennen, dass eines dieser Skelette mit seinem dürren knochigen Zeigefinger auf die Inschrift am Altar wies. In lateinischen Versalien war dort VETUSTATEM NOVITAS, UMBRAM FUGAT VERITAS zu lesen. Mit etwas Abstand stand darunter das Wort: SEPARATIO.
»Diesen Spruch kenne ich doch! Ist das nicht dieser lateinische Favorit deines Vaters?«
»Zweifellos«, bestätigte Alina, immer noch zutiefst erschrocken. »Zu Deutsch: Vor der Wahrheit muss das Zeichen, vor dem Licht der Schatten weichen .«
Gabriel tastete mit seiner Lampe, die wie ein starker Scheinwerfer in das Dunkle stach, den Raum ab. An der Wand über dem Altar hatte jemand mit viel roter Farbe in großen Buchstaben ›Die nackte Wahrheit: Alle Verhüllung ist gefallen!‹ geschrieben.
»Der Spruch ist gut«, meinte Gabriel sarkastisch. »Er passt jedenfalls zu den Gerippen.«
Alina starrte auf die einzelnen Worte, deren Farbe an verschiedenen Stellen wie blutige Tränen die Wand herunterzulaufen schien. » Separatio bedeutet im alchimistischen Sinne ja auch die Trennung der Bestandteile. Eine Verhüllung wie Fleisch oder Kleidung ist diesen Knochen wirklich nicht mehr anzusehen. Mal ehrlich, wäre für dich der Unterschied zwischen dem Männlichen und Weiblichen ohne die beiden Masken überhaupt erkennbar?«
»Nein«, gab ihr Gabriel betreten zu Antwort. »Was ist mit den beiden Totenköpfen auf dem Altar? Sie sehen wie zwei Kerzenständer aus.«
Alina schwieg. Sie trat an den Altar und nahm die Streichholzschachtel, die bei den Köpfen lag, in die Hand, entnahm eines und ließ es aufflammen. Darauf zündete sie vorsichtig die Kerzen an, die wohl als männliche und weibliche Pole zu verstehen waren. Leise murmelte sie den Sinnspruch ihres Vaters: »Vor der Wahrheit muss das Zeichen, vor dem Licht der Schatten weichen.«
Gabriel, der im Moment keine Ruhe für Zeremonien dieser Art aufbringen konnte, hatte unterdessen einen Durchgang entdeckt, der von zwei Säulen geschmückt war. Ungeduldig wies er mit seiner Lampe
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