Wächter des Mythos (German Edition)
gehauenen Stollen, bis sie auf einmal vor einer Verzweigung standen.
»Was meinst du«, fragte Gabriel ratlos, »sollen wir uns nach links oder rechts wenden?«
Alina drängte sich an ihm vorbei und leuchtete mit ihrer Lampe kurz beide Seiten aus. Im linken Stollen entdeckte sie wiederum ein Zeichen am Boden.
»Schon wieder das Symbol für Saturn«, bemerkte Gabriel überrascht.
»Sieh mal, es ist wirklich aus Blei, ich kann es mit meinem Daumennagel einritzen. Ich glaube, wir sollten diesem Zeichen folgen.«
Sie liefen weiter und stießen auf eine alte, schwere, mit Eisen beschlagene Tür. Gabriel musterte sie misstrauisch und versuchte, sie zu öffnen. Zuerst rührte sie sich gar nicht, doch als er nochmals kraftvoll am schmiedeeisernen Türgriff zog, konnte er sie langsam öffnen.
Sie war so schwergängig, dass er darauf achten musste, dass sie ihm nicht aus der Hand glitt und vor seiner Nase wieder zuschlug. Gabriel hielt, wie ein wahrer Gentleman, Alina die Tür auf. Kaum war sie in der dahinterliegenden Kammer verschwunden, hörte er ein lautes Scheppern. Gabriel ließ los und stürzte zu Alina in die Kammer. Hinter ihm fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Alina stand starr und blass in einer pechschwarz verrußten Felsenkammer. Überall nackter Fels, nur Boden und Altar bestanden aus bearbeitetem Gestein. Mehrere bleiche Skelette saßen hier und dort am Boden. Vor ihnen waren auf weißen Porzellantellern Speisen, oder das, was von ihnen noch übrig geblieben war, aufgehäuft. Über einen dieser Teller war Alina gestolpert. Die bizarre Anordnung der Skelette und die arrangierten Speisen, obwohl schwarz und verdorben, verliehen der ganzen Szene etwas ungemein Feierliches und erschreckend Lebendiges. Gabriel war ebenfalls fassungslos stehengeblieben, als Alina sich plötzlich zu ihm umwandte.
»Das ist zu viel für mich, Gabriel. Ich muss hier raus!«, brach es aus ihr heraus und sie stürmte an ihm vorbei auf die Tür zu. Dort blieb sie verwirrt stehen.
Gabriel begriff sofort, was sie daran irritierte: Nirgends war ein Türgriff zu sehen. Die Tür ließ sich von dieser Seite aus nicht mehr öffnen, sie waren eingeschlossen. Alina war den Tränen nahe.
»Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren, Alina. Hier ist nichts, was uns wirklich gefährlich werden könnte, außer, wir kommen hier nicht irgendwann wieder raus.«
»Ich weiß wirklich nicht, was er sich dabei gedacht hat«, sagte Alina enttäuscht und schüttelte den Kopf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Wen meinst du?«
»Meinen Vater natürlich.«
»Erinnerst du dich noch an die Aphorismen deines Vaters, Alina? An den bitteren Kelch von Horaz, du weißt schon, dem römischen Dichter und Satiriker?«
» ›Genieß die Gegenwart mit frohem Sinn, sorglos, was immer dir die Zukunft bringen werde; doch nimm auch bittern Kelch mit Lächeln hin – vollkommen ist kein Glück auf dieser Erde‹ «, murmelte sie leise sich an den philosophischen Gedankensplitter ihres Vaters erinnernd. Er hatte geahnt, dass sie hier unter der Erde an ihre Grenzen stoßen werde und wollte ihr mit dem Aphorismen neuen Mut zusprechen.
»Also, zuerst atme jetzt einmal tief durch, dann sehen wir uns das alles noch einmal in Ruhe an.«
Alina beruhigte sich rasch, dann begannen sie, alles um sich herum etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Inschrift des Altars lautete diesmal PUTREFACTIO . Auf dem sonst leeren Altar standen zwei große flache Schalen. Eine silberne, die mit Erde gefüllt war, und eine goldene mit Samen. Alina lief um den Altar herum und entdeckte parallel dahinter einen zweiten, identischen Altar-Sockel. Doch anstelle des Altars war eine rechteckige Vertiefung zu sehen, die mit dunkler Erde gefüllt war. Das Ganze ähnelte einem Grab.
Plötzlich durchbrach Gabriels Stimme die herrschende Stille: » ›Lass aus dem Unvollkommenen das Vollkommene entstehen, durch Verfaulung, die schwarz und dunkel ist. Lass neue und mannigfaltige Dinge in dir keimen, die deine Seele durchdringen wie der göttliche Funken die Nacht.‹ «
Alina drehte sich hastig nach ihm um. »Was soll das, willst du mir mit diesem schrecklichen Aphorismus etwa neuen Mut zusprechen?«
»Aber nein«, gab er ihr verwundert zur Antwort. »Diese Skelette halten beschriebene Papierbögen in ihren knochigen Fingern. Auf diesem hier steht dieses Gedicht.«
Alina wandte sich zu dem Skelett in ihrer Nähe, nahm ihm das Papier aus den Fingern und las den Text
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