Wächter
Kenntnisse der Relativität beschränkten sich auf eine Vorlesung an der Hochschule, die sie vor einigen Jahrzehnten belegt hatte - das und Science Fiction, und der konnte man nicht trauen . Aber die Chicagoer Zeitscheibe war entstanden, als Einstein gerade fünfzehn Jahre alt war; Oker konnte also noch nichts über die Relativität wissen. Und Relativität beruhte auf der Feststellung, dass ein Äther überhaupt nicht existierte.
Aber sie sagte sich, dass Oker die Problematik trotzdem hinreichend erfasst hatte.
»Herr Bürgermeister, er hat recht«, sagte sie. »Das Weltall selbst dehnt sich aus. In diesem Augenblick treibt die Ausdehnung die einzelnen Sterne und Galaxien auseinander. Doch irgendwann wird die Ausdehnung sich auch in kleineren Maßstäben bemerkbar machen.«
»Es wird die Welt zerreißen«, sagte Abdi, »und wir werden inmitten von Felsbrocken herumfliegen. Dann werden unsere Körper sich auflösen. Und schließlich die Atome, aus denen unsere Körper zusammengesetzt sind.« Er lächelte. »Und genau so wird die Welt enden. Die Ausdehnung, die bisher nur durch ein Fernrohr sichtbar ist, wird am Ende alles erfassen und in Stücke reißen.«
Rice starrte ihn an. »Sie sind ein kleiner Zyniker, was?« Er schaute finster auf Emelines Brief. »In Ordnung, Sie haben meine Aufmerksamkeit. Miss Dutt, Sie sagen also, Sie hätten mit den Leuten zu Hause darüber gesprochen. Richtig? Wann wird diese große Blase also platzen? Wie lang haben wir noch?« »Ungefähr fünf Jahrhunderte«, sagte Bisesa. »Die Berechnungen sind schwierig - man vermag es nicht mit Bestimmtheit zu sagen.«
Rice starrte sie an. »Fünf Scheiß-Jahrhunderte - Verzeihung. Wo wir nicht einmal Nahrungsmittelvorräte für fünf Wochen haben. Ich glaube, ich werde das erst mal in die Ablage ›Ich kümmere mich später darum‹ einsortieren.« Er rieb sich die Augen - energisch, aber offensichtlich angespannt. »Fünf Jahrhunderte. Mein Gott! Gut, was kommt als Nächstes?«
Als Nächstes kam das Sonnensystem.
»Ich habe Ihren Brief gelesen, Miss Dutt«, sagte Gifford Oker leise. »Sie sind in einem Weltraum-Clipper zum Mars gereist. Sie müssen in einem phantastischen Jahrhundert leben!« Er spreizte sich. »Wissen Sie, als ich ein kleiner Junge war, bin ich einmal Jules Verne begegnet. Ein großartiger Mann. Ein wirklich großartiger Mann. Er hätte den Flug zum Mars verstanden, da bin ich mir sicher!«
»Können wir beim Thema bleiben«, knurrte Rice. »Jules Verne, mein Gott! Zeigen Sie der Dame einmal Ihre Zeichnungen, Professor; ich sehe doch, dass Sie es kaum noch erwarten können.«
»Ja. Hier ist das Ergebnis unserer Erforschung des Sonnensystems, Miss Dutt.« Oker öffnete die Aktentasche und breitete seine Unterlagen auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters aus. Es gab Bilder der Planeten - ein paar unscharfe Schwarz-Weiß-Fotografien, aber größtenteils sorgfältig kolorierte Farblithographien. Und es gab etwas, das spektrographischen Daten ähnelte und wie ein verwaschener Strichcode aussah.
Bisesa beugte sich vor. »Siehst du das?«, murmelte sie fast unhörbar. »Gut genug«, flüsterte das Handy.
Oker suchte einen Satz Bilder heraus. »Das«, sagte er, »ist die Venus.«
In Bisesas Realität war die Venus eine von Wolken verhangene Kugel. Die Raumsonden hatten eine Atmosphäre so dick wie ein Meer gefunden und eine so heiße Landmasse, dass Blei darauf schmolz. Doch diese Venus war anders. Auf den ersten Blick sah sie aus wie die Erde aus der Perspektive eines Astronauten im Weltraum: Wolkenfetzen, ein graublauer Ozean, kleine Eiskappen an den Polen.
»Alles nur Meer - Meer und Eis«, sagte Oker. »Wir haben kein Land entdeckt, nicht die geringste Spur. Das Meer besteht aus Wasser.« Er kramte nach den spektrographischen Resultaten. »Die Luft besteht aus Stickstoff mit etwas Sauerstoff - weniger als auf der Erde - und ziemlich viel Kohlendioxid, das sich im Wasser lösen muss. Die Ozeane der Venus müssen zischen wie Coca-Cola!« Das war der arg strapazierte Scherz eines Professors. Und dann beugte er sich nach vorn. »Und es gibt dort Leben: Leben auf der Venus.«
»Woher wissen Sie das?«
Er wies auf grüne Schlieren auf ein paar Zeichnungen. »Wir erkennen zwar keine Einzelheiten, aber es müssen Tiere in den unendlichen Meeren leben - Fische vielleicht, riesige Walfische, die sich vom Plankton ernähren. Wir können auch davon ausgehen, dass es sich mehr oder weniger um irdische Entsprechungen
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