Wächter
»Konservenbüchse«. Sie dachte an die Inspektion des Betriebs-Decks zurück; sie hatte ein gutes Gedächtnis für Räume und Volumen. »Wieso ist dieses Deck dann so viel
kleiner als die Betriebs-Ebene?«, murmelte sie schläfrig, aber vernehmlich.
»Weil diese Wände mit Wasser gefüllt sind, Bisesa«, ertönte eine leise Stimme.
»Bist du das, Thales?«
»Nein, Bisesa. Alexej nennt mich Max.« Die Stimme war männlich mit einem schottischen Einschlag.
»Max für James Clerk Maxwell . Du bist das Schiff.«
»Genau genommen das Segel, denn das ist die intelligenteste und empfindungsfähigste Komponente. Ich bin eine nichtmenschliche Person«, sagte Max ruhig. »Ich verfüge über ein vollständiges Spektrum kognitiver Fähigkeiten.«
»Alexej hätte uns miteinander bekannt machen sollen.«
»Das wäre schön gewesen.«
»Das Wasser in den Wänden?«
Es soll die empfindliche menschliche Fracht vor der harten Strahlung des Raums schützen; schon ein paar Zentimeter Wasser entfalteten eine erstaunliche Schutzwirkung.
» Max. Weshalb gerade dieser Name?«
»Weil er passt …«
Der schottische Physiker James Clerk Maxwell hatte im 19. Jahrhundert nachgewiesen, dass Licht einen Druck ausübt - das fundamentale Prinzip, auf dem die neue Lichtschiffflotte der Menschheit beruhte. Seine Arbeit hatte die Grundlagen für Einsteins revolutionäre Theorien gelegt. Bisesa lächelte. »Maxwell wäre sicher erstaunt darüber, dass seine Grundlagenforschung schon zwei Jahrhunderte später in die technische Praxis umgesetzt wurde.«
»Ich habe mich etwas eingehender mit Maxwell beschäftigt. Ich habe nämlich ziemlich viel Freizeit. Die Idee zu einem Sonnensegel hätte durchaus auch von ihm stammen können. Die Theorie ist schließlich von ihm.«
Bisesa schob den Arm unter den Kopf. »Wenn ich von Athene, der Schild-KI, las, fragte ich mich immer, was für ein Gefühl es wohl wäre, sie zu sein. Eine Intelligenz, die in einen
so fremdartigen Körper eingebettet ist. Max, was ist es für ein Gefühl, du zu sein?«
»Ich frage mich oft, was für ein Gefühl es ist, Sie zu sein«, sagte in seinem weichen irischen Akzent. »Ich bin zu Neugier fähig. Und zu Ehrfurcht.«
Es überraschte Bisesa, dass er so etwas sagte. »Ehrfurcht? In Bezug worauf?«
»Die Ehrfurcht, mich selbst in einem Universum von einer solchen Schönheit wiederzufinden, das dennoch nur ein paar einfachen Gesetzen unterliegt. Wieso ist das so? Andererseits, wieso sollte es nicht so sein?«
»Bist du Theist, Max?«
»Viele der führenden theistischen Denker sind KIs.«
Elektronische Propheten, sagte sie sich. »Ich glaube, James Clerk wäre stolz auf dich gewesen, Maxwell junior.«
»Danke.«
»Licht aus, bitte.«
Das Licht wurde zu einem schwachen roten Glühen gedimmt. Sie fiel in einen tiefen Schlaf; die sanfte Schwerkraft war gerade stark genug, um dem Innenohr mitzuteilen, dass sie nicht mehr nicht fiel.
Ein paar Stunden später weckte Max sie auf und begründete das damit, dass sie sich dem Mond näherten.
»Es ist natürlich reiner Zufall«, sagte Alexej auf der Brücke, »dass der Weg zum Mars uns am Mond vorbeiführt. Aber es ist mir gelungen, ihn als Gravitationsschleuder in unsere Flugbahn zu integrieren …«
Bisesa hörte gar nicht mehr hin und schaute stattdessen nach vorn.
Das anschwellende Antlitz des - fast vollen - Mondes war nicht der vertraute »Mann im Mond«, der über den Straßen des Manchesters ihrer Kindheit geschwebt war. Sie war dem Mond nun so nahe, dass der Mann sich gedreht hatte; das große »rechte Auge« des Mare Imbrium war auf sie gerichtet,
und eine schmale Sichel der Mondrückseite zeichnete sich deutlich ab - das Segment einer kraterübersäten pockennarbigen Oberfläche, die der Menschheit bis zum Beginn des Raumzeitalters verborgen geblieben war.
Aber es war nicht die Geologie des Monds, die sie interessierte, sondern die Spuren der Menschheit. Eifrig machten sie und Myra die großen Stützpunkte auf der erdzugewandten Seite des Monds aus - Armstrong und Tooke -, die sich deutlich als silberne und grüne Blasen gegen den braunen Mondstaub abhoben. Bisesa glaubte, eine Straße zu sehen, eine silberne Linie, die den Krater namens Clavius durchschnitt, in dem die nach Bud Tooke benannte Basis sich befand. Dann wurde sie sich bewusst, dass es sich um einen Massetreiber handeln musste, eine kilometerlange elektromagnetische Startbahn.
Der moderne Mond wies alle Anzeichen industrieller Nutzung auf. In
Weitere Kostenlose Bücher