Wächterin der Dunkelheit: Roman (German Edition)
Gesellschaftsschicht zu rächen. Es war Jahrzehnte her, seit sie das letzte Mal von Erinnerungen an ihre Zeit als Mensch heimgesucht worden war.
An ihren Tod.
Doch nun tauchten die Bilder mit erschreckender Klarheit und Hässlichkeit wieder auf. Sie erinnerte sich wieder an die Zeit kurz nach der Revolution, als es in Paris als ausgesprochen chic galt, so genannte Opferbälle zu organisieren, zu denen lediglich Familien zugelassen waren, die Mitglieder aufweisen konnten, die den Umtrieben des Revolutionstribunals zum Opfer gefallen waren. Die Gäste trugen rote Bänder um den Hals, um an das Teufelswerk von Madame La Guillotine zu erinnern. Die Bälle waren eine entsetzlich morbide Idee gewesen und hatten sie bewogen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und nie wieder einen Fuß über die Grenze zu setzen.
Sie hasste diese Erinnerungen, ebenso wie alles andere, was damit zusammenhing. Es war so unfair gewesen, nur wegen der Gier eines einzelnen Mannes alles zu verlieren. Eines Mannes, den sie selbst in die Familie gebracht hatte. Ohne sie wären ihr Vater, dessen Ehefrau und ihre Geschwister niemals gestorben.
Warum hatte sie Michels Lügen geglaubt? Warum nur?
Die Schuld und die Scham quälten sie bis zum heutigen Tag.
Sie hatte ihre Familie getötet, weil sie sich in ein verlogenes, hinterhältiges Arschloch verliebt hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Kehle wurde so eng, dass sie kaum noch atmen konnte.
»Papa«, schluchzte sie, während der Schmerz über seinen Verlust in ihr tobte. Ihr Vater war ein anständiger Mann gewesen, der sich stets um die Menschen gekümmert hatte, die in seinen Diensten standen. Weder ihr noch ihrer Mutter hatte es an etwas gefehlt. Er war sogar bereit gewesen, auf seinen Adelstitel zu verzichten, als ihre Mutter unerwartet schwanger geworden war.
Hätte er es getan, wäre ihm dieses Schicksal erspart geblieben … Doch ihre Mutter hatte sich geweigert. Sie war eine selbstbestimmte Frau gewesen, die keinen Ehemann gewollt hatte, der ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie war eine der renommiertesten Schauspielerinnen ihrer Zeit gewesen und hatte Angst gehabt, er würde darauf bestehen, dass sie der Bühne den Rücken kehrte und sich um Haus und Familie kümmerte.
Selbst nach der Zurückweisung hatte ihr Vater beharrlich versucht, ihre Mutter umzustimmen, und für ihrer beider Unterhalt gesorgt. Erst als Danger volljährig geworden war, hatte er eingesehen, dass ihre Mutter ihre Meinung wohl nie ändern würde.
Erst in dieser Zeit hatte er eine Frau gefunden, die er schließlich geheiratet hatte.
Trotzdem hatten er und seine Ehefrau sich Danger gegenüber stets freundlich gezeigt. Ihre Stiefmutter hatte sie sogar mit offenen Armen in ihrem Haus empfangen. Maman Esmée hatte sie mit Liebe und Hingabe förmlich überhäuft.
Sie war nicht viel älter als Danger gewesen und hatte sie niemals wegen ihres Status als uneheliche Tochter verachtet. Stattdessen hatten sich die beiden jungen Frauen rasch angefreundet und waren zu engen Vertrauten geworden.
Selbst heute noch sah sie vor sich, wie sie sich liebevoll geneckt hatten. Sie sah Esmées Gesicht, wenn sie sie zum Hutkaufen mitschleppte – Esmées große Schwäche. Sie kam an keinem Schaufenster vorbei, ohne hineinzugehen und zu sehen, was es Neues gab. Sie konnte Stunden bei der Hutmacherin zubringen und jede einzelne Kreation anprobieren, während ihr Vater ihr lachend dabei zusah.
Danger hatte sie beide so geliebt …
Und dann, mitten in dieser verhassten Sommerhitze, hatte die Revolution die Stadt heimgesucht, schlimmer als eine Choleraepidemie. Tausende waren innerhalb weniger Wochen gestorben.
Ihr Bruder Edmonde war gerade einmal vier Jahre alt gewesen, ihre kleine Schwester Jacqueline noch nicht einmal ein Jahr, als ihre Landsleute sie brutal ermordet hatten. Keines ihrer Familienmitglieder hatte den Tod verdient, zu dem man sie verurteilt hatte.
Keiner.
Bis auf ihren Ehemann. Er hatte jede Wunde verdient, die sie ihm für seinen gemeinen Verrat zugefügt hatte. Und all das nur, weil er das Haus ihres Vaters begehrt und es selbst hatte besitzen wollen. Er hatte es bekommen, o ja, allerdings hatte sie dafür gesorgt, dass er nicht lange genug gelebt hatte, um es auch genießen zu können.
Zitternd vor Zorn und Kummer schob sie ihre rot-goldene Decke zurück und zog die goldfarbenen Vorhänge ihres antiken Himmelbetts zur Seite.
Alexion sollte in der Hölle verrotten, ehe sie bereit war,
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