Wächterin der Träume
Noah lehnte die Stirn gegen meine. »Komm zu mir zurück«, flüsterte er.
Als ich seine stockende Stimme hörte, kamen mir die Tränen. Wie konnten wir uns in der kurzen Zeit, seit wir uns kannten, nur so nahegekommen sein? Mit einer Hand massierte ich seinen verspannten Nacken. »Ich bin doch eigentlich nie fort gewesen«, erwiderte ich flüsternd.
Da hörte ich hinter mir ein Räuspern. Seufzend drückte ich Noah noch einmal, bevor ich mich umdrehte. Die Hände auf meine Hüften gelegt, stand Noah hinter mir und blickte ebenfalls den Neuankömmling an.
Es war natürlich Verek.
Ich lächelte gezwungen. »Warum hast du so lange gebraucht?«
»Er kann nicht mit uns kommen.« Mit zusammengebissenen Zähnen warf Verek Noah einen Blick zu. Mir war es gleich, ob er eifersüchtig auf Noah war oder ihn für eine Bedrohung hielt. Ich war einfach froh, meinen Freund wiederzuhaben.
»Er kommt mit«, beharrte ich und nahm Noah bei der Hand. »Wenn du mich schon vor das Erschießungskommando zerrst, will ich ihn bei mir haben.«
Der Nachtmahr verdrehte die Augen. »Der Rat ist zusammengetreten und erwartet dich in der großen Halle.«
»Der Rat?« Ich starrte ihn an. »Du schleppst mich wirklich vor ein Hinrichtungskommando?«
Er warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Es wurde berichtet, dass du deine Kräfte eingesetzt hast, um einem Träumenden Schaden zuzufügen.« Er blickte auf Phil, der noch immer auf dem Boden lag. »Der Rat wünscht, den Grund dafür zu erfahren.«
»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein.« Verek reichte mir die Hand. »Ich soll dich hinbringen.«
Natürlich. Ich ergriff seine Hand und hielt mit der anderen weiterhin Noahs. »Halt dich fest«, sagte ich zu ihm und schloss die Augen. Noah verstärkte seinen Griff.
Als ich die Augen wieder öffnete, befanden wir uns in demselben tempelähnlichen Gebäude wie schon einmal. Das musste der Sitz des Rates sein. Durch die geöffneten Türen traten wir in die Halle, worauf sich die Köpfe aller Anwesenden zu uns umwandten. Die Blicke, die sie mir zuwarfen, waren nicht besonders freundlich.
»In dieser Welt haben sie mich anscheinend auf dem Kieker«, murmelte ich gepresst, während wir durch den Gang bis ans andere Ende des Raumes schritten.
»Du machst ihnen Angst«, flüsterte Verek mit hocherhobenem Kopf. Auch Noah, der neben mir ging, senkte den Blick nicht. Fürchtete er sich oder war es Trotz? Letzteres, vermutete ich.
Ich blickte Verek aus dem Augenwinkel an. »Mache ich dir auch Angst?«
Er wandte den Blick ab. »Ein bisschen.«
Na toll. Ich versetzte nicht nur Noah, sondern auch Verek in Angst und Schrecken. Und womöglich sogar meinen Vater. Das war ja einsame Spitze! Wahrscheinlich fürchtete der ganze verdammte Rat, dass ich sie alle zugrunde richten könnte.
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Seite der Halle, wo der Rat wie ein griesgrämiges Tribunal hockte. Links von ihnen saß mein Vater, flankiert von Hadria und der Obersten Wächterin.
Meine Halbschwester freute sich offensichtlich diebisch, mich und Noah zu sehen. Wahrscheinlich dachte sie, seine Anwesenheit wäre endgültig mein Verderben.
Morpheus wirkte bekümmert, und ich glaubte, Tränen in seinen Augen zu sehen, als er mein ramponiertes Gesicht erblickte. Selbst Hadria, die stets eine heitere Gelassenheit ausstrahlte, schien mein Aussehen zu beunruhigen. Wenigstens sie standen auf meiner Seite und würden mich, gemeinsam mit Verek und Noah, unterstützen. Gegen den gesamten Rat und ein Publikum von mindestens zweihundert Traumwesen. Na, großartig.
Warum konnte ich bloß nicht als normaler Mensch geboren werden?
»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragte ich. Ich war nicht gewillt, noch einen Schritt näher auf Padera und ihr Schlangennest zuzugehen.
Verek ließ die Schultern hängen. »Vor wenigen Minuten hat die Oberste Wächterin den Rat zusammengerufen. Sie behauptet, du hättest deine Kräfte gegen einen Träumenden eingesetzt, und hat den Rat erneut aufgefordert, dich auszulöschen.«
Natürlich. Das Biest hatte die ganze Sache ja eingefädelt. Und ich hatte ihr in die Hände gespielt, vermutlich noch besser, als sie erwartet hatte.
»Einfach so? Und ich werde ohne Vorwarnung hierhergebracht und vor Gericht gestellt?«
Hatte Verek etwa auch Tränen in den Augen? Mein Gott, das ging ihm ja ebenso nahe wie mir. »Ja.«
»Das ist vielleicht ein Mist.« Ich war wirklich stinksauer, aber
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