Während die Welt schlief
unermesslich große Liebe, die keine Resonanz fand.
»Ich habe mir immer gewünscht, dass Mama anders wäre. Mehr wie Jolanta, vielleicht«, sagte ich und dachte an Dalia und daran, dass ich sie für eine egoistische, harte, effiziente Mutter gehalten hatte, die mir nur aus der Distanz begegnete.
»Ich liebte Jolanta. Sie war mir die einzige Mutter. Aber sie hat zugelassen, dass ich mit einer Lüge aufwuchs, die mir schwere Verletzungen zugefügt hat, nur, um ihre Mutterrolle nicht zu gefährden«, erklärte David, als wollte er Jolanta vor unfairen Vergleichen bewahren. Er machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck. »Jolanta liebte mich auch. Daran zweifele ich nicht. Aber die Liebe kann die Täuschung nicht ausradieren.«
In seinem entrückten Blick lag tiefer Schmerz, wie auch in seinem eisernen Griff um das Glas, das er entschlossen auf dem Tisch platzierte, als wollte er den exakten Punkt des Verrats markieren.
Die Liebe kann die Täuschung nicht ausradieren. Und sie kann die Tatsache nicht wiedergutmachen, dass das Lebensglück eines Menschen dadurch erkauft wurde, dass ein anderer Mensch todunglücklich wurde – meine Mutter.
»Als Sie über Jolanta gesprochen haben – über ihre große
Zärtlichkeit –, da habe ich Sie beneidet«, gestand ich. »Als ich jung und dumm war, habe ich mich schwergetan mit Dalia, aber inzwischen glaube ich, dass mir keine andere Frau eine bessere Mutter hätte sein können als sie.«
42
Mein Bruder David
2001
W enigstens haben Sie gewusst, wer Sie sind und wo Sie herkamen«, sagte David und sah sich nach einem weiteren Bier um.
»Ich muss schnell in den Laden und Nachschub kaufen«, sagte ich. »Wollen Sie mitkommen?«
»Natürlich.«
Die Fahrt im Auto war schwierig: eine andere Umgebung, in der wir miteinander zurechtkommen mussten. Die Kommunikationsebene, die wir in meinem Haus erreicht hatten, war noch nicht in Sicht. Aber die Fahrt war nur kurz, und wir füllten die Zeit mit belanglosen Plaudereien. »Netter Ort«, sagte David.
»Das ist der Delaware-Fluss.«
»In Israel liegt nicht so viel Schnee wie hier.« Israel.
»Im Libanon schon.« Libanon.
Zu Hause genügte ein weiteres Bier, damit mein verloren geglaubter Bruder den Mut fand, mir von einer schwierigen Reise mit Jolanta zu erzählen. Gemeinsam hatten sie ihre Heimatstadt in Polen besucht.
»Abgesehen von ihrem Todestag war der Tag, an dem ich das Konzentrationslager sah, in dem sie alles verloren hatte, der schlimmste meines Lebens«, sagte er.
»Ich trinke noch eine Tasse Kaffee. Möchten Sie noch ein Bier?«, fragte ich.
»Gern.« Er schaute mich an, und ich erwiderte seinen Blick, ohne jeden Vorbehalt.
Er erzählte mir von Mosches Geständnis. Wie es sein Leben auf den Kopf gestellt hatte.
Hier war er nun und rückte die Dinge wieder gerade, mit etwas Stärkerem als Qahwa.
»Ich versuchte mir einzureden, dass mein Vater sein Geheimnis mit ins Grab genommen hatte«, sagte David und nahm einen weiteren Schluck. »Aber seine Worte schlichen sich in jeden Moment der Stille, in jede schlaflose Stunde.«
»Und Jolanta?«
»Ich fühlte mich von ihr verraten«, erwiderte er. Ein Riss inmitten der tiefen Zuneigung, die er für sie empfand. Mit Mosche verhielt es sich anders. »Mein Vater und ich standen uns nicht so nahe«, sagte er. »Und weil er es mir gesagt hat, empfand ich ihm gegenüber weniger Groll. Er hat mir alles gestanden, auch das, was er nicht hätte sagen müssen. An dem Tag, als er mir alles erzählte, fühlte ich mich ihm näher als je zuvor. «
Mosche hatte seine letzten Atemzüge dazu benutzt, seinem Sohn die Wahrheit zu offenbaren und ihn um Vergebung anzuflehen. Er hatte von seinen Träumen gesprochen, von den Hoffnungen des jüdischen Volkes nach einem Heimatland. Er hatte die Geheimnisse der Irgun vor David ausgebreitet, die Grausamkeiten, mit denen sie die Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben hatten. »Gnade war ein Luxus, den wir uns nicht leisten konnten«, hatte Mosche erklärt. Er hatte die Gesichter
beschrieben, die ihn verfolgten. »Es sind zu viele, mein Sohn.« Die arabische Frau, deren Fußkettchen geklimpert hatten, als sie ihm ein Lammgericht servierte. Wie er gelernt hatte, ihr arabisches Kind zu lieben, und sich in den Alkohol geflüchtet hatte, um ihre »Ibni, Ibni«-Schreie auszublenden, doch die klangen ihm noch genauso laut in den Ohren wie an jenem Tag, an dem er ihr das Kind aus den Armen gerissen hatte. »Ich hörte sie und lief trotzdem
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