Während die Welt schlief
weiter«, hatte er David zugeflüstert. Mosche hatte nichts ausgelassen. Schönes und Schreckliches, alles offenbarte er, bevor seine Seele in die Nacht entschwebte.
Schließlich lag die ganze schreckliche Geschichte der Nakba vor mir, durch die meine Familie einen kleinen Jungen und ihr Land verlor. Alles lag vor mir, in meinem Wohnzimmer in Pennsylvania, dreiundfünfzig Jahre später. Doch ich war die einzige Überlebende, der es vergönnt war, diesen Moment zusammen mit Ismael zu erleben, dem fehlenden Kettenglied, und ich fühlte mich ausgeblutet durch die Wunden der anderen.
Ich lehnte mich im Sofa zurück und schloss die Augen, wie ein Buch nach der letzten gelesenen Seite. Aber David hatte noch eine Sache zu sagen.
»Ich weiß, die Dinge, die mein Vater getan hat, machen ihn zu einem Terroristen, für Sie und für andere«, sagte David. »Er hat ein paar üble Sachen gemacht, aber er war nicht böse. Er war gut zu mir. Er war mein Vater, Amal.«
Ich entgegnete nichts. Ich hielt Davids Worte in den Händen, spürte ihr Gewicht und merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.
»Verstehen Sie, was ich sage, Amal?«
Ich verstehe. »Da sind auch ein paar Dinge, die ich Ihnen noch sagen werde. Mit der Zeit«, erklärte ich.
»Wenn es was über Yussuf ist, dann weiß ich es schon«, erwiderte er.
In diesem Moment ertönte eine Hupe in meiner Einfahrt. Es war das Taxi, das David zum Flughafen bringen sollte.
»Fahren Sie nicht«, bat ich spontan.
»Ich will nicht fahren«, antwortete er sofort.
Unsere verzweifelten Blicke trafen sich. In den Augen des Gegenübers suchten wir nach dem gemeinsamen Wunsch, das aus den Fugen geratene Schicksal wieder in Ordnung zu bringen. Und während dieses Moments der Nachdenklichkeit entstand etwas zwischen uns. Etwas Zartes.
David ließ sein Flugticket auf den nächsten Morgen umschreiben.
»Auf einen neuen Anfang«, rief er.
Bevor ich mein Glas heben konnte, um mit ihm anzustoßen, kam Sara durch die Tür. Aus ihrer Miene konnte ich ablesen, dass sie die ganze Zeit über, seit sie aus dem Haus gegangen war, darauf gewartet hatte, wieder zurückkommen zu dürfen. In diesem Moment war ich einfach nur glücklich.
»Habibti, ich möchte dir meinen Bruder David vorstellen.«
TEIL 7
Baladi
Mein Land
43
Dr. Ari Perlstein
2002
D ie Vergangenheit erschien mir jetzt wie ein Traum. Ich weiß weder, wann ihre Geister aufhörten mich zu verfolgen, noch, wann mein kleines Mädchen zur Frau wurde. Und auch nicht, wann ich Dalias Vermächtnis übernahm und eine unnahbare Mutter wurde.
Vor einigen Monaten hatte ich bemerkt, dass ich unwiderruflich gealtert war. Meine nackte Silhouette starrte vom Spiegel auf mich herab, das plumpe Schreckgespenst eines Körpers, an dem der erbarmungslose Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hatte. Die Jahre hatten meine Taille fett und meine Haut runzlig werden lassen. Meine Brüste hingen herunter wie verwelkte Blumen, und meine Haare hatten die Farbe des Winters angenommen.
Nur die Narbe auf meinem Unterleib war nicht gealtert. Die verschrammte Haut war so jung und straff wie eh und je, einbalsamiert von der Grausamkeit, der eisernen Hüterin von Erinnerung und Zeit. Mit der Hand fuhr ich über diese Stelle erhaltener Jugend, wie ich es schon unzählige Male zuvor in meinem Leben getan hatte. Aber jetzt empfand ich eine lustlose,
schwache Nostalgie, und Saras Worte schwebten durch meine Gedanken wie Libellen über dem Wasser: »Mom, ich fahre nach Palästina. Ich möchte, dass du mitkommst.« Und ich hörte auch andere Stimmen. Atme, mein Kind. Ich schob sie weg, aber sie kamen immer wieder.
»Es ist nicht nur wegen dieser korrupten Politik und der Ungerechtigkeit, Mom«, sagte Sara mit rot geweinten Augen voller Tränen. »Ich möchte wissen, wer ich bin.«
Da war er wieder, der Kummer ihres Lebens, so wenig Familie zu haben. So wenig Verwandtschaft. So wenig von ihrer Mutter. So viel »so wenig« hatte sich in ihrem Inneren zusammengeballt und trieb sie um, trieb sie dazu, nach Palästina zu gehen. Sie war eben die Tochter ihrer Mutter, und ich beobachtete, wie sie alles in sich hineinkehrte, alles entschlossen verbarg und in ihren glühenden Blick legte. Was immer du fühlst, lass es nicht heraus.
»Ich werde es mir überlegen«, antwortete ich und unterdrückte das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen.
Und ich überlegte es mir wirklich. Tatsächlich dachte ich an nichts anderes, bis zu dem Augenblick, in dem ich vor dem
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