Während die Welt schlief
sie Ihnen gerne.«
»Mein Arbeitstag für heute ist beendet«, erklärte er triumphierend. Ein strahlendes Lachen ließ seine schlecht sitzende Zahnprothese verrutschen, als er die Nummer seines Assistenten wählte.
Ari hatte nie geheiratet und sich ganz seiner Karriere gewidmet. Im Laufe seines Lebens hatte er einen von Einsamkeit geprägten Charme und die Weisheit eines Mannes erworben, der weit mehr Bücher gelesen hatte als die Hunderte, die sich in seinem Büro angesammelt hatten.
Ari war ein großartiger Geschichtenerzähler und erinnerte mich so sehr an Haj Salim, der mit Sicherheit inzwischen gestorben war. Gebannt saßen wir alle da und lauschten den Erzählungen über seine jugendlichen Abenteuer mit Baba, von dem Tag, als sie sich am Damaskustor trafen, bis zu dem Tag, als mein Vater ihnen zur Flucht in den westlichen Teil Jerusalems verhalf, kurz nachdem Israel die Stadt besetzt hatte. Er erwähnte die klimpernden Kettchen, die Dalia um die Fußknöchel trug, Jiddu Yahyas perfekt nach oben gedrehten Schnurrbart, dessen Spitzen fast bis zu seinen Augen reichten,
wenn er lächelte; Teta Basimas Kochkunst und ihr botanisches Wissen, Ein Hods Bäume und Obstgärten, die beispiellose Gewalt – und eine Freundschaft, die sein Leben gerettet hatte. Und wenn sein Gedächtnis aussetzte, sprang ich mit meinen Erinnerungen ein.
Drei Generationen waren in Aris Büro versammelt, zusammengetrieben vom Sog einer verhinderten Geschichte, die vom Schicksal betrogen worden war und jetzt ihr Recht einforderte, erzählt zu werden. Die Geschichte einer Familie aus einem versteckten Dorf, die eines Tages vom Schicksal heimgesucht wurde und seither gelähmt war von der Sehnsucht nach ihren Wurzeln und ihrer Scholle. Es war ein Kriegsbericht, der uns abwechselnd frösteln und schwitzen ließ. Ein Bericht von glühender Liebe und einem Selbstmordattentäter. Von einer Frau, die ihrem Schicksal entgangen war und zu einem Wort ohne Bedeutung wurde. Von erwachsenen Kindern, die den Wahnsinn durchkämmten, um ihre Daseinsberechtigung zu finden. Von einer auf Lügen aufgebauten Wahrheit, ans Licht gezerrt durch einen Riss, eine Narbe in dem Gesicht eines Mannes.
Die Gefühle überwältigten uns alle in diesem winzigen Büro, dessen einzige Verbindung zur Außenwelt ein Lichtstrahl war, der durch ein einzelnes, kleines Fenster oben in der Wand hereindrang. Das schwächer werdende Licht war der einzige Beweis dafür, dass die Zeit nicht stehen geblieben war. Ich stellte mir vor, wie sich der junge Ari und der junge Hasan hinter dem Marktwagen eine Tomate geteilt und damit den Grundstein für eine ewige Freundschaft gelegt hatten. Ich hatte David schon viele Geschichten über Baba erzählt, aber diese zeigte ihn besonders deutlich von seiner besten Seite.
»Ihr Vater war so glücklich, als Yussuf geboren wurde. Ich glaube, ich hatte ihn nie zuvor glücklicher oder stolzer gesehen«,
bemerkte Ari und beschwor ein Bild meines Vaters herauf, das nur er sehen konnte.
Ich war plötzlich wieder ein Kind und fragte mich, ob Baba genauso glücklich über meine Geburt gewesen war – oder gar noch glücklicher? Möglicherweise auch überhaupt nicht glücklich, weil ein weiterer hungriger Mund in einem Flüchtlingslager gestopft werden musste?
Ari holte mich zurück in die Gegenwart. »Wo ist denn Ihr Bruder Yussuf jetzt?«, fragte er mich.
Im selben Moment hallte der Adhan durch die Luft und kroch mir unter die Haut.
»Allaaaaaahu akbar, Allahu akbar …« Von mehreren Minaretten gleichzeitig ertönte der Gesang. Diese Melodie, die ich viel zu lange nicht mehr gehört hatte, drang ungehindert in jeden Winkel meiner von Motten zerfressenen Seele, floss durch mich hindurch wie ein Fluss.
»Aschhadu anna la ilaha illa allaaaah, wa-aschhadu anna Muhammadan rasulu allah …« Mit geschlossenen Augen saß ich da und öffnete die Schleusen meines Gedächtnisses. Eine schmerzhafte Nostalgie nach meiner verlorenen Familie und meinem verlorenen Ich sprudelte hervor. In die Stille, die auf Aris Frage folgte, schallte der Gesang eines Volkes. Wo ist Ihr Bruder? Wo ist Yussuf?
»Hayu ala-s-salaaaaat. Hayu ala-l-falah …« Die Glocken der Grabeskirche erklangen im Takt meiner süßesten und gleichzeitig bittersten Erinnerungen. Ich war wie versteinert, als der Rhythmus des Islam Fatima in ihrer himmelblauen Dishdasha wieder aufleben ließ. Fatima mit ihrem Grübchenlächeln. Tausend unvergossene Tränen.
»Ich weiß nicht«, entgegnete ich,
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