Während die Welt schlief
selbst überrascht über die Weichheit in meiner Stimme. Damit es keine Missverständnisse, keine Fragen mehr geben würde, fügte ich hinzu: »Man
sagt, dass er den Lastwagen fuhr, der 1983 die amerikanische Botschaft in die Luft gesprengt hatte.«
Sara stockte der Atem. Sie hatte nie etwas davon gewusst.
Jakob fiel die Kinnlade herunter, mit der Wucht von Felsbrocken, die einen Abhang herunterrollen. So ein Ding hatte er sich nicht im Traum vorstellen können.
David blieb stumm unter der Last meiner Worte, weil er verhindern wollte, dass sie zu nah an seinen Sohn drangen, dessen flehentlicher Blick auszudrücken schien: Aber man sagte doch, sie seien gute Menschen. Gute Araber. Unsere friedlichen palästinensischen Verwandten. Keine Terroristen!
Saras Gesicht erinnerte an eine klaffende Wunde. Ungläubig, erwartungsvoll, begierig, die ganze Geschichte zu hören. Verletzt von einer Mutter, die ihr so unendlich viel verheimlicht hatte.
Ich war zu müde und erschöpft, um auf ihre Reaktion einzugehen.
Die himmelblaue, in der Mitte aufgeschlitzte Dishdasha schwebte in einer Ecke meines Bewusstseins, an dem Ort, an dem ich schon vor langer Zeit die Lichter gelöscht hatte, und breitete sich wie eine Wolke über mir aus. Als ich mich umdrehte, erkannte ich Majid in den Zügen meiner Tochter, und im selben Moment schloss ich die Augen, weil ich zu schwach war, irgendwelche Emotionen an mich heranzulassen. Ich hatte Angst, dass der Zorn meines Bruders auch in meinem Innern lauern könnte. Angst, dass sein Zorn auch zu meinem werden könnte. Angst, ewige Angst.
Aber dieses Mal schaffte es meine innere Abwehr nicht, gegen die Erinnerung und die Liebe anzukämpfen, die schon so lange unter meinem Eis ausharren mussten und jetzt wie lodernde Fackeln emporstiegen. Sie forderten, dass ich weinte, sie zumindest mit den Tränen ehrte, die sie verdienten. Dass
ich sie in gebührender Weise mit Wut und Trauer würdigte. Dass ich ihnen die längst überfällige Anerkennung zollte und mich schmerzhaft an sie erinnerte.
»Laaa illaaaha illa-llah«, endete der Adhan, und ich sah, wie Ari mich mit einem friedlichen, verständnisvollen Blick musterte.
Ari, der Junge, dessen Kindheit und dessen rechtes Bein dem Fanatismus der Nazis zum Opfer gefallen waren. Der hinkende Junge, der nur einen einzigen Freund hatte und in ein arabisches Dorf gebracht wurde, um atmen zu können, fernab von den schrecklichen Erinnerungen seiner Eltern, die von den Konzentrationslagern für immer gezeichnet waren, trotz ihrer unermüdlichen Versuche, die Scherben ihres Lebens zu kitten. Ari, der verfolgte Junge, der von Krämpfen geschüttelt in einer Tabona halb erstickte, während Araber Jagd auf Juden machten, ganz egal welche Juden, um Rache für 1948 zu üben. Ari, der junge Mann, der erlebte, wie seine Eltern unter der beklemmenden Last ihrer Erinnerungen wie Geister verschwanden und ihn mit Relikten ihres Lebens zurückließen – eine mit achtzehn Perlen verzierte Brosche und Regale voller Bücher.
»Hier ist die Brosche.« Er zeigte sie mir. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … achtzehn kostbare, alte Perlen.
Ari, der Mann, der nicht heiraten konnte, weil er, wie ich, die Liebe mehr fürchtete als den Tod. Weil die Kehrseite der Liebe für die Gehassten und Verfolgten einen unerträglichen Verlust bedeutet.
Ari, der von seinen Landsleuten als »sich selbst hassender Jude« bezeichnet wurde, der von Baba »mein Freund« genannt worden war, hatte Verständnis. Er breitete einen Schleier des Mitgefühls über meinen Worten aus. Er fuhr den Lastwagen, der 1983 die amerikanische Botschaft in die Luft gesprengt hatte . Ari
wollte mich schützen und das Andenken an Yussuf bewahren, im Angesicht dieser Worte, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Das las ich in seiner Miene. Unsere Blicke trafen sich und blieben aneinander hängen, bis zwei schwere Tränen aus meinen Augen flossen, wie zwei Anker, die mich auf meinen Sitz drückten, während sie im Jerusalemer Steinboden versickerten.
Ari, der junge Jude auf dem Hochzeitsfoto meiner Eltern, ließ mich an den letzten Erinnerungen meines Vaters teilhaben, nahm mich mit auf den Ochsenkarren, den mein Vater geliehen hatte, um die Perlsteins heimlich auf die andere Seite Jerusalems zu bringen, damals, als Ostjerusalem noch nicht besetzt war. Die handgemalte Flagge mit dem Davidstern, die mein Vater aus einem Bettlaken für die Perlsteins gefertigt hatte, damit sie sie auf israelischer
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