Während die Welt schlief
ein Vorhang zum Ölberg hin öffnet, auf legendärem Boden mit Blick auf Jerusalem,
so wie damals mit Jack O’Malley, als ich Jenin Lebewohl sagte. Jetzt war ich auf dem Weg zurück nach Jenin. Der Kreis hatte sich geschlossen.
Das uralte Dorf mit seinen Mauern, die aus Geheimnissen bestanden, und seinen Bäumen, die auf blutigem Boden wuchsen, schien mir jetzt wie tot. Um Jerusalem herum und im Westjordanland sah man auf allen Hügeln Siedlungen, die sich mit ihren gepflegten grünen Rasenflächen und ihren roten Dächern wie Krebsgeschwüre bis in die Täler hinab ausbreiteten. Sie standen in erschütterndem Kontrast zu den verfallenen arabischen Häusern weiter unten, wohin die Abwässer der jüdischen Siedlungen flossen und wo die Siedler oft ihren Müll abluden.
Hohe – viel zu hohe – Gebäude überragten die Stadt. Apartmenthäuser nur für Juden, Siedlungen, die Festungen glichen, Hotelklötze und importierte Sträucher wachten wie Gefängniswärter über die für die Gegend typischen Bogenfenster und Bogenportale der alten Gemäuer.
Trotz der verzweifelten »Judaisierung Jerusalems« wirkte die Alte Stadt kalt. Beinahe schon grausam. Und letzten Endes uninteressant.
Wie konnte das nur passieren?
»Wow!«, rief Sara aus. »Das ist wunderschön.«
Nein. Das sind bloß Steine , wollte ich antworten.
Warum machen sich Würde und Ehre an Stein und Boden fest? Seit Generationen pflügen die Menschen die Erde um, bauen aus ihrem Inneren Denkmäler, um der Epoche ihren Stempel aufzudrücken, um ihren Traum zu modellieren, um in einem unendlichen Universum wichtig zu sein, um den Zufall mit Sinn zu erfüllen, um Unsterblichkeit zu erlangen, indem sie Besitz ergreifen von einer unsterblichen Welt, die sie zermalmen und aushöhlen.
»Das sind bloß Steine, Sara.« Meine Gedanken platzten aus mir heraus.
»Historische Steine, Mom«, ergänzte sie und war fassungslos darüber, dass ich diesen grandiosen Anblick schlechtmachte.
»Ich werde dir in Jenin einen Olivenbaum zeigen – man nennt ihn die ›Alte Dame‹ –, in dem mehr Geschichte steckt als in den Mauern der Alten Stadt. Er ist schöner, bescheidener und authentischer als der behauene Stein hier«, sagte ich, wobei ich selbst meinen Worten erst glaubte, als ich sie aussprach. »Und«, fuhr ich fort, bewegt von der Liebe für dieses vollkommene Geschöpf, das ich geboren hatte, »du bist einzigartig. «
44
Halt mich, Jenin
2002
I n letzter Zeit hörte man den Namen Jenin häufiger in den Nachrichten: »HÖHLE DES TERRORS.« »SCHLUPF-WINKEL DER TERRORISTEN.« »BRUTSTÄTTE DES TERRORS.«
Jenin war größer geworden, seit ich es vor fast dreißig Jahren verlassen hatte.
Hütte war auf Hütte gebaut. Stein statt Lehmziegel. »Vertikales Wachstum« ist der Fachausdruck dafür. Eine Quadratmeile, auf der fünfundvierzigtausend Menschen wohnten – vier Flüchtlingsgenerationen, auf Hilfe der Vereinten Nationen angewiesen, in der Senkrechten zusammengepfercht.
Als ich ankam, vibrierte die Luft vor Geschäftigkeit. Alles schien sich zu bewegen, hin und her zu wuseln. Sogar die Kinder spielten voller Unruhe. Die alten Männer, die auf umgestülpten Eimern saßen und gemächlich eine Partie Backgammon spielten, waren verschwunden – eine gewohnte Szene in meiner Jugend hier. Junge Männer, die keine Träume mehr hatten, liefen mit einem Gewehr über der Schulter in den Gassen herum. Sie bereiteten sich auf das Unvermeidbare vor,
deckten sich mit Lebensmitteln ein, errichteten Verteidigungsstellungen, Sprengfallen und Sandsäcke gegen den aufziehenden Sturm. Zorn und Aufbegehren marschierten Hand in Hand im militärischen Gleichschritt: links – rechts – links – rechts, konnten sich aber nur innerhalb der Grenzen dieser einen Quadratmeile bewegen. Selbstmordattentäter banden sich ihre Sprengstoffgürtel um, die Verliebten schlossen sich in die Arme, kleine Mädchen umfassten ihre eigenen Knie, und Mütter verfrachteten ihre Kinder in die hintersten, innersten Winkel.
Es war der 31. März 2002.
Am 20. März hatte ein Selbstmordattentäter sieben Israelis in Galiläa getötet. Dieses Attentat sollte den Tod von einunddreißig Palästinensern durch Israelis am 12. März rächen, was wiederum ein Racheakt für den Tod von elf Israelis am 11. März war, als Antwort auf den Tod von vierzig Palästinensern am 8. März, und so weiter und so fort.
Während wir uns in Aris Büro in die Vergangenheit zurückversetzten, nahmen israelische Panzer Jassir
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