Während die Welt schlief
»gesäubert« wurde. Yahya versuchte zu berechnen, wie viele Generationen in diesem Dorf gelebt hatten und gestorben waren, und kam auf vierzig. Seine Aufgabe wurde dadurch erleichtert, dass Araber ihren Kindern fünf oder sechs Namen geben, die ihre Abstammung in der richtigen Reihenfolge aufzeigen.
Auf diese Weise zählte Yahya vierzig Generationen an Leben, das nun gestohlen worden war. Vierzig Generationen Geburten und Begräbnisse, Hochzeiten und Tänze, Gebete und verschrammte Knie. Vierzig Generationen Sünde und Nächstenliebe, Kochen, Spielen und Faulenzen, Freundschaft, Feindschaft und Pakte, Regen und körperliche Liebe. Vierzig Generationen mit den ihnen eingeprägten Erinnerungen, Geheimnissen und Skandalen. Alles fortgeschwemmt, weil ein
anderes Volk sich berechtigt fühlte, ihren Platz einzunehmen und das, was von der Architektur, den Obstgärten, Brunnen, Blumen und dem Liebreiz noch übrig war, als das Erbe fremder Juden aus Europa, Russland, den Vereinigten Staaten und anderen Ecken der Welt zu beanspruchen.
Unter dem quälenden Joch lebendig begrabener Geschichte fiel das Jahr 1948 in Palästina aus dem Kalender hinein ins Exil. Tage, Monate und Jahre verschwammen im unendlichen Nebel eines einzigen historischen Moments. Die zwölf Monate dieses Jahres ordneten sich neu und wirbelten ziellos im Herzen Palästinas umher. Die Alten von Ein Hod starben als Flüchtlinge im Lager und hinterließen ihren Erben die großen Eisenschlüssel zu den Häusern ihrer Ahnen, die zerbröselnden, von den Osmanen angelegten Grundbücher, die Verträge, die während des Britischen Mandats geschlossen worden waren, ihre Erinnerungen, ihre Heimatliebe und den unerschütterlichen Willen, den Geist, der vierzig Generationen überdauert hatte und nun der Zerstörungswut von Dieben zum Opfer zu fallen drohte, zu bewahren.
5
»Ibni! Ibni!«
1948
I n den Tagen vor dem Angriff, Ende Juli 1948, als israelische Soldaten ins Dorf kamen, um den Waffenstillstand zu besiegeln, wehten heiße Winde aus der Negev-Wüste in Richtung Jerusalem. Bis zum September waren es nur noch wenige Wochen, und stets kündigte er sich mit trockenen Südwinden und kübelweise Regen an.
Regen bedeutete Hoffnung, selbst wenn er nur in der Luft lag. Und das Festessen zum Waffenstillstand , dachten die Dorfbewohner, wird ein Zeichen für einen friedlichen Auftakt setzen.
Beim Essen beobachtete ein israelischer Soldat namens Mosche eine arabische Frau. Ein kleiner Junge zu ihren Füßen klebte an ihrem Kaftan. Sie hatte einen Säugling auf dem Arm, der sich an ihre Brust schmiegte, und servierte Mosche und seinen Kameraden mit der freien Hand Lammfleisch. Wie unfair es war, dass diese arabische Bäuerin mit Kindern gesegnet war, während seine arme Jolanta, die unter den Gräueln des Völkermords gelitten hatte, keine Kinder bekommen konnte, dachte der Mann in der hellbraunen Soldatenuniform. Es brachte ihn innerlich zum Weinen.
Mosche wollte, dass Jolanta glücklich war. Jolanta wollte ein Kind. Doch die Nazis hatten ihren Körper zerstört, indem sie sie gezwungen hatten, ihre letzten Jugendjahre den physischen Begierden der SS zu opfern. Dieser Albtraum hatte ihr das Leben gerettet, sie aber zugleich unfruchtbar gemacht. Nachdem sie sämtliche Familienmitglieder in Todeslagern verloren hatte, war Jolanta Ende des Zweiten Weltkriegs alleine nach Palästina gefahren. Sie wusste nichts von diesem Land und seinen Einwohnern, folgte lediglich den verlockenden Verheißungen der Zionisten und den großzügigen Versprechungen von Milch und Honig. Sie suchte Zuflucht. Sie wollte den Erinnerungen an verschwitzte deutsche Männer, die ihren Körper besudelt hatten, den Erinnerungen an das Böse und an den Hunger entfliehen. Sie wollte den Todesschreien, die sie in ihren Träumen heimsuchten, den ausgelöschten Liedern von Mutter und Vater, Bruder und Schwestern, dem endlosen Schreien sterbender Juden entfliehen.
Mosche verstand ihre Qual. Dieselbe Qual sah er in den Augen verwaister, verwitweter, zugrunde gerichteter Juden, die jeden Tag zu Hunderten an den Ufern Palästinas landeten. Doch Jolanta war etwas Besonderes. So zerbrechlich und hübsch. Er verliebte sich in sie, und sie heirateten schon ein paar Monate nach ihrer Ankunft.
»Jolanta, jetzt bist du sicher«, tröstete Mosche seine Frau in ihrer ersten gemeinsamen Nacht.
»Wie kannst du dir da gewiss sein, Mosche?«, weinte sie in seinen Armen.
»Wir werden es erleben, dass zwischen
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