Während die Welt schlief
könnte, in Gedanken jahrelang wieder und wieder zurückkehren sollte. Selbst nachdem sie sich in geistiger Umnachtung verlor, suchte sie die flüchtende Menschenmasse in ihrem Kopf nach Ismael ab.
»Ibni! Ibni!« Mein Sohn, mein Sohn, schrie Dalia mit hervorquellenden Augen. Staub im Gesicht, Kakteen zu ihren Füßen. »Ibni! Ibni!« Sie untersuchte den Boden, blickte auf, und Hasans hoch aufgeschossene Gestalt war verschwunden. »Ibni! Ibni!« Ein paar Leute versuchten ihr zu helfen, doch Gewehrschüsse erschollen, und Dalia wurde weitergestoßen. Träume ich? Alles war so unglaublich, dass nichts mehr wirklich erschien. Um sicherzugehen, betrachtete sie wieder ihre Arme. Vielleicht ist er in meine Thoba gekrochen. Sie griff an ihre Brust. Kein Ismael. Ihr Sohn war weg.
Dalia blieb stehen, und mit ihr die Zeit. Sie schrie, so wie sie es nicht getan hatte, als ihr Vater ihr die Hand verbrannte. Es war der laute, durchdringende, verzehrende, der Welt entrückte Schrei einer Höllenqualen leidenden Mutter. Geboren aus dem abgrundtiefen Wunsch, die Zeit nur ein paar Minuten zurückzudrehen. Wenn es einen Gott gibt, dann hörte er Dalias Wehklagen. Hasan rannte zu ihr hin und suchte ebenso verzweifelt, wie Dalia es getan hatte. Aus Angst um seinen älteren Sohn behielt Hasan Yussuf dicht bei sich. Yussuf, der kein Wort herausbrachte, drückte sich fester an seinen Vater, und schließlich brachten sich die drei dank Hasans Stärke und Willenskraft, aber ohne Ismael, in Sicherheit.
Die Dorfbewohner setzten sich im Talkessel auf den Boden. Die Landschaft war so schön und friedlich, wie sie es immer gewesen war. Bäume und Himmel und Hügel und Steine hatten
sich nicht verändert, und alle außer Dalia waren ruhig und wie betäubt. Sie wurde fast verrückt vor Kummer, fragte überall herum und entblößte die Babys anderer Frauen, weil sie hoffte, einen Jungen mit einer Narbe auf der rechten Wange zu entdecken. Sie suchte fieberhaft und Böses ahnend, obwohl Yahya sie zu beschwichtigen versuchte und meinte, dass sicher jemand das Kind aufgegriffen habe und es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie wieder vereint wären. Doch an Worte kann man sich nicht klammern , das wusste Yahya.
Den letzten Rest ihrer Energie verschwendete Dalia an Tränen, und wieder und wieder spielte sie den Augenblick in Gedanken durch. Der kleine Yussuf, der nicht begriff, welche Hölle über das gesamte Dorf hereingebrochen war, hatte seinen Vater losgelassen und saß in den Armen seines Jiddu Yahya. Beide waren verstört und den Tränen nah.
Hasan schlurfte ruhelos zwischen seinem verwundeten Bruder, seiner untröstlichen Frau, seinem vor Angst schlotternden Sohn und seinem verwirrten Vater hin und her, bis er schließlich so erschöpft war, dass er auf dem Boden einschlief, mit einem Stein als Kopfkissen und von gnadenlosen Stechmücken gepeinigt. Er hatte versagt und seine Familie nicht schützen können. Weder konnte er ihr Sicherheit bieten, noch konnte er Ismael zurückbringen.
»Jiddu, können wir jetzt nach Hause?«, fragte Yussuf seinen Großvater. Yahya war nicht imstande zu lügen, konnte ihm aber auch nicht die Wahrheit sagen. Er küsste seinen Enkel, zog ihn näher zu sich heran und sagte: »Ruh dich ein bisschen aus, ya ibni, ruh dich jetzt ein bisschen aus, ya habibi.« Mein geliebter Sohn.
Am nächsten Tag wollten sie umkehren, doch die Gewehre in ihrem Rücken vereitelten eine Rückkehr nach Hause. Drei Tage und zwei Nächte lang marschierten sie unter der brennenden
Sonne – und zweifellos heimlich von Heckenschützen beobachtet – weiter unzugängliche Hügel hinauf und hinunter. Ein zuckerkranker Junge und seine Großmutter stürzten und starben. Eine Frau erlitt eine Fehlgeburt, und die dehydrierten Körper zweier Babys erschlafften in den Armen ihrer Mütter. Jenin war so weit weg, und sie rasteten, wo immer sich inmitten des Flüchtlingsstroms, der aus anderen Dörfern Zulauf bekam, Gelegenheit bot. Die Einwohner dieser Orte halfen ihnen, so gut sie konnten, schenkten ihnen Nahrung, Decken und Wasser und nahmen so viele Menschen wie möglich bei sich auf. Bald gaben Jordanien, der Irak und Syrien ein paar Zelte aus, und in Jenin entstand ein Flüchtlingslager. Von den Hügeln aus konnten die Dorfbewohner von Ein Hod auf ihre Häuser zurückblicken, zu denen sie niemals zurückkehren würden.
So kam es, dass Ein Hod achthundert Jahre nachdem ein General aus Saladins Armee es 1189 gegründet hatte, von Palästinensern
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