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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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seine schwangere Frau trafen als Letzte ein. Er ging gebeugt, einen Fuß vor den anderen setzend, und führte seine untröstliche Stute Fatuma. Ganush, Darwishs Augenweide und Fatumas lebenslanger Gefährte, das Pferd, das einst Dalias Fuß gebrochen hatte, war während des Kampfes getötet worden, und es hatte viel guten Zuredens bedurft, bis es gelang, Fatuma von dem riesigen Kadaver ihres Kameraden wegzuziehen.
    Was nun?
    Am Brunnen schlugen Soldaten mit Stöcken um sich und trieben die verschreckte Menge den Hügel hinunter. Ein Karren wankte unter der Last der von mehreren Familien zusammengetragenen Habseligkeiten und wirbelte Staub auf. Eine alte Frau fiel hin, und jemand hob sie auf. »Geht, geht!«, rief der Lautsprechergott. Entsetzen stob aus den Herzen der Menschen und kreiste über ihnen wie Vögel. Tschilp. Tschilp.
    Dalia hielt Ismael an ihre Brust gepresst, und Hasan trug Yussuf auf dem einen, einen Sack mit hastig zusammengepackten Habseligkeiten auf dem anderen Arm. Yahya schleppte einen Korb mit Essen auf dem Rücken, und ohne Wasser
stolperten die Dorfbewohner unter einem sengenden Himmel auf die Hügel zu.
    »Anhalten«, sagte der Lautsprechergott. »Taschen hierher. Morgen könnt ihr sie einsammeln. Lasst alles da, Schmuck und Geld. Ich schieße, verstanden?«
    Geht. Halt. Verstanden? Zurück. Morgen. Sicher. Yahya klammerte sich an ein paar Worte. Yussuf klammerte sich an seinen Vater, Dalia an Ismael, dessen Narbe noch gerötet war, aber zu heilen begann. Vielleicht gab es Hoffnung. So ließen sie ihre Besitztümer – den schweren Goldschmuck, den Dalia an ihrem Hochzeitstag getragen hatte, Nahrung, Kleidung und Decken – fallen. Basimas Gartenschere. Warum habe ich die mitgenommen? , fragte sich Dalia.
    Darwish lud die Säcke, die er Fatuma auf den Rücken geschnallt hatte, ab und kippte den Inhalt neben das Gold und die anderen Wertgegenstände. »Das Pferd! Lass das Pferd da«, befahl ein Soldat. Nicht der Lautsprechergott, aber sicher sein Jünger.
    »Bitte nicht!« Darwish hatte keinen Stolz mehr.
    Fatuma war es wert, dass man um sie bettelte, doch es verärgerte den Soldaten. »Halt’s Maul!«
    »Bitte nicht!«
    »Halt’s Maul!«
    »Bitte nicht!«
    Zweimal feuerte der Soldat seine Pistole ab. Einen Schuss zwischen Fatumas Augen, auf ihre weiße Blesse. Sie fiel auf der Stelle tot um. Den anderen in Darwishs Brust. Seine schwangere Frau, Basimas Nichte, die einst mit Hasan verlobt gewesen war, schrie gellend auf, stand brüllend neben ihrem blutenden Ehemann, während sich ein paar Leute versammelten, um Darwish ein Stück wegzutragen. Jemand holte ein Glas Honig hervor, um seine Wunde zu versorgen und einer Infektion
vorzubeugen, und verband ihn mit Streifen seiner eigenen Kleidung. Die Kugel blieb in Darwishs Wirbelsäule stecken und verdammte ihn zur Bewegungslosigkeit, zu einem Leben mit hässlichen Druckgeschwüren, einem Leben voller Pein, für immer zermürbt vom trostlosen Schicksal seiner Frau – gebunden an einen Ehemann, der nur ab der Brust aufwärts lebte. Und selbst von der Brust aufwärts lebte er nur von Erinnerungen an Pferde und Wind.
    Die Schüsse lösten Panik aus, und die Schreckensvögel wurden von Wolken verdrängt, die Yahya auf Regen hoffen ließen. Es war noch nicht die richtige Jahreszeit, doch seine Bäume brauchten Wasser. Manchmal war der Regen für Ein Hod das Allerwichtigste, manchmal nur wertvoll gewesen. Dann erblickte Yahya seinen Sohn Darwish, und nichts war mehr von Bedeutung. Verflucht war der Regen. Yahya setzte den Korb ab und begann, um seinen starken, geliebten Sohn, den beeindruckenden Reiter, zu weinen.
    Dalia hatte noch nicht zu den anderen aufgeschlossen. In der von Panik ergriffenen Menge war sie von Hasan getrennt worden, doch sie konnte noch die Spitze seiner Kufiya sehen. Er war größer als die meisten Männer; das hatte ihr immer gefallen. Gott, was geschieht hier? Die Wolken verschwanden so schnell, wie sie aufgezogen waren. Die Sonne stach wie ein Skorpion. Staub lag in der Luft, Kakteen bedeckten den Boden, und Dalia dachte an Wasser.
    Ein Augenblick hatte genügt.
    Im einen Augenblick ruhte der sechs Monate alte Ismael in ihren mütterlichen Armen. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.
    Ein Augenblick kann ein Gehirn zerschmettern und den Lauf eines Lebens oder der Geschichte verändern. Es war ein
winziger Moment, zu dem Dalia, auf der Suche nach einer Erklärung, einem Hinweis darauf, was mit ihrem Sohn passiert sein

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