Während die Welt schlief
liebst du mich?«
»Meine Liebe zu dir ist so groß wie der Ozean und all seine Fische. So groß wie der Himmel und all seine Vögel. So groß wie die Erde und all ihre Bäume.«
»Und was ist mit dem Universum und all seinen Planeten? Den Teil hast du vergessen.«
»Dazu wollte ich gerade kommen. Nur Geduld«, sagte er, an seiner Pfeife ziehend. Er atmete aus. »Meine Liebe zu dir ist größer als das Universum und all seine Planeten.«
»Liebst du Yussuf genauso sehr?«
»Ja. Meine Liebe zu ihm ist so groß wie der Ozean … aber ohne all die Fische.«
All die Fische – der Gedanke, dass Baba mich ein wenig mehr liebte, ließ mein Herz schwellen. »Was ist mit dem Himmel und der Erde? Ist deine Liebe zu Yussuf so groß, aber ohne Vögel und Bäume?«
»Ja, aber sag es niemandem.«
»Das werde ich nicht, Baba, ich schwöre.« Jetzt ließen Vögel mein Herz schwellen.
»Was ist mit dem Universum?«
»Sei nicht gierig.« Er zwinkerte mir zu. »Ich muss zur Arbeit, Habibti. Morgen.«
Habibti. Morgen.
Es war schwierig, so früh aufzuwachen. Normalerweise nickte ich in Babas Armen wieder ein. Schließlich gewöhnte ich mich
daran, vor Sonnenaufgang aufzustehen. Lange blieb ich dabei. Jeden Tag, wenn Baba mir auf der Terrasse unseres kleinen Lehmhauses vorlas, erlebten wir beim Morgengrauen, wie die Sonne sich über das Land ergoss und alles, was sie berührte, mit Leben erfüllte.
Wie manche Nacht gleich Wogen des Meeres goss ihr Kleid
Um mich, mit tausend Sorgen mich prüfend und mit Leid!
Ihr sagt’ ich, als die Lende sie dehnte breit genug
Mir kehrte den Rücken und ab den vordern Bug:
O Nacht, du lange, lange! Willst du dem Morgenschein
Nie weichen? Doch, wird besser als du der Morgen sein?
O Nacht, du wunderbare, als ob die Sterne dein
Mit hanfnen Stricken wären gelegt an Felsgestein!
Baba sagte: »Das Land und alles, was es trägt, kann man uns nehmen, doch niemand kann dir dein Wissen und deine Abschlüsse nehmen.«
Ich war damals sechs, und gute Schulnoten waren die Währung, mit der ich für Babas Wertschätzung zahlte, nach der ich mich mehr denn je verzehrte. Ich wurde die beste Schülerin von ganz Jenin und lernte die Gedichte, die mein Vater so liebte, auswendig. Selbst als ich zu groß geworden war, um auf seinem Schoß zu sitzen, traf uns die Sonne stets aneinandergeschmiegt und mit einem Buch in der Hand an.
Mein Leben vor dem Krieg kehrt in Erinnerungen zu mir zurück, zusammengehalten von Babas Armen und erfüllt vom Tabakduft seiner Olivenholzpfeife. Wir besaßen wenig und kamen
kaum über die Runden. Ich war nie auf einem Spielplatz und schwamm niemals im Meer, doch meine Kindheit war magisch: Poesie und Morgendämmerung haben sie verzaubert. So sicher wie in der Umarmung meines Vaters, wenn mein Kopf sich in die Beuge seines Nackens und seiner starken Schultern schmiegte, habe ich mich nirgends sonst gefühlt. Nie habe ich eine zärtlichere Zeit kennengelernt als die Morgendämmerung, die mit dem Duft nach Honig-Apfel-Tabak und den schillernden Worten von Abu-Hayyan, Khalil Gibran, al-Maarri und Rumi anbrach. Ich verstand nicht immer, was sie geschrieben hatten, doch ihre Verse waren lyrisch und hypnotisierten mich. Durch sie spürte ich, welche Leidenschaften, Verluste und seelischen Qualen mein Vater durchlebt und was er geliebt hatte. Er gab das alles an mich weiter. Dieses große Geschenk, das Baba mir machte, war ebenfalls etwas, das niemand mir nehmen konnte. Jahrzehnte später, an einem trostlosen Februarmorgen in Pennsylvania, sollten Gibrans eindringliche Verse und die Erinnerung an Babas weichen Bariton mein einziger Trost sein.
9
Im Küchenbunker
1967
D ann kam der Juni 1967. Ein heißer Monat ohne Schule, in dem man es sich gut gehen lassen konnte. In kindlicher Selbstvergessenheit streifte ich umher. Es war vier Wochen vor meinem zwölften Geburtstag.
Huda und ich hatten beschlossen, den perfekten Überschlag zu lernen, um nicht von unserer Freundin Lamya ausgestochen zu werden, die mit affenartiger Körperbeherrschung Rad und Salto schlagen konnte. Wir übten auf der weichen Lichtung in der Nähe des Pfirsichhains westlich von Jenin.
»Das nennst du ein Rad?«
»Versuch du es erst mal selbst, Amal!«
Ich landete auf dem Rücken.
»Erbärmlich«, kicherte Huda.
»O Gott!«, stöhnte ich. »Mein Bein! Ich hab mich echt verletzt.«
»Steh auf … komm schon. Ich weiß, dass du nur so tust.« Aus Hudas Stimme klang Sorge. »Amal. Amal. O Gott!«
Ich
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