Während die Welt schlief
schämte er sich für den Hungerlohn, den er nach Hause brachte. Dafür, jeden Tag ohne Ismael zurückzukehren. An manchen Tagen legte er seine Bücher beiseite, um Autos zu reparieren. Das Interesse daran hatte ihm Ari Perlstein vermittelt, und schließlich wurde aus dem Hobby ein Geschäft, sodass er schließlich genug Geld verdiente, um Yussuf aufs Gymnasium schicken zu können.
Das plötzliche Hinscheiden seines Großvaters führte dazu, dass Yussufs Herz sich in Trauer wand. Aus der Ferne beobachtete er, wie Haj Salim und Jack O’Malley in gedämpfter Stimmung Backgammon spielten, den leeren Stuhl seines Jiddus zwischen sich.
»Mama …« , sagte Yussuf und versuchte die Tränen zurückzuhalten, da Dalia auf Haltung pochte. Er saß zu ihren Füßen und spielte mit dem verbliebenen Fußkettchen. Mama klimpert beim Gehen.
»… ich will Jiddu zurückhaben.«
Er hatte nicht gewusst, was er sagen würde, bis die Worte
heraus waren. Dalia legte ihrem Sohn die Hand auf den Kopf. Sie konnte kaum glauben, wie sehr er gewachsen war. Er liebte es, die Münzen an ihrem Fußkettchen zu zählen und es dabei zwischen seinen Fingern durchgleiten zu spüren. Eins, zwei, drei, vier … achtzehn Goldmünzen. Dalia wusste, dass sie Yussuf vernachlässigt hatte, seitdem Ismael verschwunden war. Ich tue, was ich kann, ich gebe mein Bestes, bei Gott, wirklich. Ismael wäre jetzt fünf Jahre alt. Wie er wohl aussehen würde?
Als Dalia Yussuf das Haar aus der Stirn strich, fragte er sich, ob sie ihm wohl antworten würde. Oder ob er sie enttäuscht hatte, weil er den dummen Wunsch geäußert hatte, jemand möge von den Toten auferstehen.
Ich werde lernen, die Nai zu spielen , beschloss Yussuf und stahl sich wortlos davon.
7
Amals Geburt
1955
V ier Jahre nachdem die UNO die Lehmschachtel finanziert hatte, die Hasan für seine Familie gebaut hatte, unterstützte sie die Gründung einer Jungenschule in Jenin. Jack O’Malley bot Hasan eine Stelle als Lehrer an, doch dieser lehnte ab.
»Es gibt hier Leute mit einer offiziellen Lehrerlaubnis. Es wäre nicht richtig, wenn ich statt ihrer die Stelle bekäme«, insistierte Hasan. Stattdessen verdingte er sich als Hausmeister der Schule.
Als er sein erstes Gehalt bekommen hatte, überraschte er Dalia mit Geschenken, über die sie sich auf einmal wieder freuen konnte. Und neun Monate später, in der Julihitze des Jahres 1955, wurde ihr drittes gemeinsames Kind geboren: Amal.
Bis zu ihrer Geburt trug Dalia noch Trauerkleidung für Ismael, hüllte sich von Kopf bis Fuß in Schwarz. Als sie das feuchte Zelt endlich los waren und ihr Mann Arbeit gefunden hatte, als Bad und Küche Eimer und Waschschüsseln überflüssig machten, wurde das Warten darauf, dass der Normalzustand
zurückkehrte, für Dalia zu einer erträglichen Übergangssituation. Sie tauschte ihr abgenutztes schwarzes Kopftuch gegen ein neues, leuchtend weißes aus echter Seide. Die Geburt ihres jüngsten Kindes habe in Dalia, so hieß es, die temperamentvolle Zigeunerin von einst wieder aufblitzen lassen, wenn auch nur kurz. Obwohl das Feuer in ihrem Innern schon vor langer Zeit erstickt worden war, konnte sie sehen, wie es in der kleinen Amal von Neuem entfacht wurde und wild aufloderte.
Bald erkannte Dalia, wie aufgeweckt und wissbegierig ihr Kind war, dessen schwarze Augen etwas Unnahbares ausstrahlten und unendlich tief schienen. Das Kind hatte etwas von einer Hexe – als wäre es aus alchemistischen Zauberformeln und Beduinenpoesie entstanden. Es führte sich auf, als gehörte ihm die Welt, und einmal beobachtete Dalia, wie ihre ungezogene Tochter andere Kinder in eine schattige Gasse stieß und rief: »Diese Sonne gehört meinem Vater, haut ab!«
Bald schon musste Amal sich mit Freundinnen begnügen, die ihrer Fantasie entsprungen waren und ihre Wildheit tolerierten – bis sie eines Tages eine andere einsame Seele namens Huda fand.
Huda war so passiv und nachgiebig, dass sie in der kleinen Amal instinktiv Mitleid weckte. Sie waren ein seltsames Paar. Doch sie waren Freundinnen, und nur selten sah man die eine ohne die andere.
Während ihrer Grundschulzeit blieb Amal stur und kapriziös, außer ihrem Vater gegenüber, den sie selten sah, weil er so viele Stunden außer Haus bei der Arbeit verbrachte. Er war wie ein Gott für sie. Wenn sie sich ihm näherte, lag eine Verehrung in ihrem Blick, die ihn zutiefst rührte. Und wenn Hasan sein kleines Mädchen hielt, tat er es mit tief empfundener Zärtlichkeit. Ehe
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