Während die Welt schlief
sie ihren Vater mit Beschlag belegte, richtete
sie einen teuflischen Blick auf ihre Mutter, denn Dalia war, was Hasans Zuneigung betraf, die Konkurrenz.
Dalia brachte nicht genug Willenskraft auf, um dieses Kind physisch zu maßregeln, wie sie es mit Yussuf getan hatte. Sie ließ Amal ihre wilden Launen ausleben, beobachtete ihre Tochter, als erforschte sie ein brennendes Gefühl, das ihr vor Jahren abhandengekommen war und in ihrem Kind zehnfach wieder auflebte. Eine Ironie des Schicksals, denn Dalia konnte sich gegen rohe Kraft nicht wehren.
Dalia wurde eine stoische Frau, die ihre Mutterrolle mit beredtem Schweigen ausübte. Auf diese ruhige Distanziertheit reagierte das Mädchen mit Wutausbrüchen und Launen, dann wieder mit anfallsartig auftretenden Liebkosungen und fieberhaftem Verlangen – eine einzige Provokation. Dalia zeigte ihre Liebe, wenn das Kind schlief. Dann strich sie ihrer Tochter übers Haar, liebkoste sie endlos mit all den Küssen, die sie zurückhielt, wenn Amal wach war.
TEIL 2
El Naksa
Die Katastrophe
8
So groß wie der Ozean und all seine Fische
1960 – 1963
I n meiner Jugend verbrachte ich viel Zeit damit, mir Mutter als Dalia vorzustellen – als die Beduinin, die ein Pferd gestohlen und Rosen gezüchtet hatte und deren Fußgelenke beim Gehen klimperten. Die Mutter, die ich kannte, war eine stämmige, eindrucksvolle, strenge Frau, die Tag für Tag unermüdlich putzte, kochte, backte und Thobas bestickte. Mehrmals die Woche wurde sie zur Entbindung eines Babys gerufen. Wie bei allem, was sie tat, ging sie auch bei der Geburtshilfe mit Besonnenheit und Nervenstärke vor.
Ich war acht Jahre alt, als Mama mich zum ersten Mal bei einer Entbindung assistieren ließ.
»Diese Aufgabe ist sehr wichtig. Du musst sie unbedingt ernst nehmen, Amal«, sagte sie und fuhr mit ihrem Reinigungsritual fort.
»Wudu und Salat. Führ sie mit mir zusammen durch«, wies sie mich an.
Wir reichten uns gegenseitig die hausgemachte Seife. Ich beobachtete sie, imitierte jede Einzelheit, jede Bewegung. Wie
sie das Gesicht mit Wasser bespritzte, Hände, Ellbogen und Füße wusch. Allah murmelnd versicherte, dass sie ihm vertraute. Ich bewegte mich wie ihr Spiegelbild. Wir wuschen uns und beteten, dann flocht sie mir das Haar. Ehe wir gingen, hielt sie ihre Spezialschere über die offene Flamme des Spirituskochers und wickelte sie »im Namen Allahs, des Barmherzigen und Gnädigen« in ein Tuch.
Im Haus der werdenden Mutter gab ich mich wie Mama, bedächtig und feierlich. Ich reichte ihr die Handtücher, stand mit der Schere bereit, behielt die Nerven (und das Essen im Magen), denn sie hatte mich gewarnt: »Versuch, nicht umzukippen, und sieh zu, dass du dich nicht übergeben musst.« Hart wie Stahl. »Was immer du fühlst, lass es nicht heraus.«
Ich kann mich sehr gut an diesen Tag erinnern. Die langsamen Striche, mit denen der Kamm in Mamas Hand mir vom Scheitel bis zu den Spitzen durch mein langes schwarzes Haar fuhr. Anerkennung in ihrem Gesicht, als ich vorausahnte, dass sie mehr Handtücher brauchte, ehe sie mir ein Zeichen gab. Kenntnisse zu vermitteln und Mängeln vorzubeugen war Dalias Art zu lieben. Alles andere, die Umarmungen und Küsse, nach denen ich so lechzte, hielt sie mit zusammengepressten Kiefern und ihrer zur Faust geballten rechten Hand im Zaum. Was immer du fühlst, lass es nicht heraus.
An diesem Abend erlaubte sie mir und Huda, meiner besten Freundin, auf dem flachen Hausdach zu schlafen.
»Danke, Mama.« »Danke, Umm Yussuf«, sagten wir aufgeregt.
Sie antwortete uns nicht, verschattete ihr Herz und fuhr mit ihrer Hausarbeit fort. Am Abend sahen Huda und ich vom Dach aus, wie Mama auf Babas Rückkehr aus der Werkstatt wartete. Sie ging mit einem Besen in der Hand umher, Umm
Kalthoom sang im Radio, und sie fegte den Staub von der Türschwelle, bis es außer Mondlicht nichts mehr zu fegen gab.
Mama tanzte nie bei Hochzeiten und besuchte nur selten Freundinnen. Einmal wachte ich spätnachts auf und spürte, wie sie zärtlich über mein Haar streichelte. Damals gab sie mir einen Kuss, einen von wenigen kostbaren Küssen, die sich in mein Gedächtnis gegraben haben, und sagte: »Schlaf wieder ein, ya binti.«
Meine Kindheit im Flüchtlingslager von Jenin ist von solchen Erlebnissen geprägt. Mit etwa vier sah ich Yussufs Penis. Er zog sich gerade an und bemerkte nicht, dass ich ihn beobachtete. Tagelang dachte ich darüber nach, inspizierte mich selbst, musterte Mama im Bad und
Weitere Kostenlose Bücher