Während die Welt schlief
machte mir Sorgen, dass mit meinem Bruder etwas ganz und gar nicht stimmte. Natürlich erregte ich Aufsehen, als ich, ohne an die Nachbarn zu denken, Yussuf in den Schritt griff, und mein Bruder schlug mich heftig. Jeder, der mitbekommen hatte, aus welchem Grund ich so hysterisch schrie, war der Ansicht, Yussuf habe das Richtige getan. Nur Mama nicht.
Eine Nachbarsfrau sagte zu ihr: »Dalia, ein Mädchen macht so was einfach nicht, selbst wenn es erst vier ist. Am besten treibst du ihr den Teufel so früh wie möglich aus.«
Brich ihren Willen. Schlag sie. Erteil ihr eine Lektion. Eine andere sagte: »Du kannst darauf wetten, dass sie es nicht wieder tut.« Eine weitere: »Er ist ihr älterer Bruder, und er hat jedes Recht, seine Schwester zu schlagen, wenn sie sich danebenbenimmt. «
Doch Mama ergriff Partei für mich und wies Yussuf zurecht: »Schlag deine Schwester niemals. Nie«, sagte Mama, und ich heulte triumphierend auf, wartete darauf, von meiner Mutter
in den Arm genommen zu werden. Doch auch das tat sie nicht.
»Hör auf zu weinen, Amal«, befahl sie, nicht wütend, böse oder gar streng. Sachlich, effizient, rigoros.
Eines Morgens im Blumenmonat April entdeckte ich an meinem Vater eine Seite, die ich nie zuvor wahrgenommen hatte. Er arbeitete pausenlos, und ich sah ihn so selten, dass ich ihn bis zu diesem Tag nur aus der Ferne vergöttert hatte. Ich war fünf Jahre alt. Ich erwachte vor dem Morgengrauen, panisch und in eingenässter Schlafkleidung, und huschte in den einzigen Raum, der Privatsphäre bot, um mich aus meiner Zwangslage zu befreien. Zu meinem Schrecken und zu meiner Scham wartete Baba auf mich, als ich aus der Toilette kam. Mehr noch als bestraft zu werden, fürchtete ich, ihn enttäuscht zu haben.
Dieser Tag gehört zu meinen deutlichsten Kindheitserinnerungen. Schweigend half Baba mir in einen sauberen Schlafanzug, und ich schwebte in seinen riesigen Armen ein Stück über dem Boden. Er trug mich ein paar Schritte – ich hatte meinen kleinen Kopf in seine Nackenbeuge geschmiegt – und setzte mich auf der Terrasse auf seinen Schoß. Diese Terrasse war ein vier mal drei Meter großer Fleck aus Steinen und Fliesen mit einem Blätterdach aus Weinreben – das Ergebnis von Mamas beharrlichen Bemühungen, die Pracht ihrer Gärten in Ein Hod zu kopieren. Es war noch dunkel, doch ich erinnere mich an eine schemenhafte Landschaft mit blühenden Obstbäumen. Pfirsich-, Granatapfel- und Olivenbäume blühten, als mein Vater mir beim Schein einer Wachskerze zum ersten Mal vorlas.
Noch lange danach konnte ich aus der Erinnerung die süßen Düfte des Frühlings heraufbeschwören, die die Luft verzaubert hatten. Meinem Vater ragte die Olivenholzpfeife aus
dem Mundwinkel, und so prägte auch der rauchige Geruch von Honig-Apfel-Tabak diesen besonderen Morgen.
»Lausche den Worten, die ich dir vorlese. Sie sind magisch«, sagte er. Und ich bemühte mich nach Kräften, die klassische arabische Prosa zu verstehen, die für mein junges Hirn wie eine Fremdsprache klang. Doch der Rhythmus faszinierte mich, und Babas Stimme sang mich in den Schlaf. Ich schlummerte in seinen Armen ein.
Ich erzählte niemandem etwas davon und verbrachte den Tag in Erwartung der Nacht, der Dunkelheit direkt vor Anbruch der Dämmerung, denn ich hoffte, dass Baba mir am Morgen noch einmal eine »Audienz« einräumen würde.
Ich passte perfekt auf Babas Schoß. Seine Arme umschlossen und hielten mich, mein Kopf ruhte in der Höhlung seiner Schulter. Er las mir wieder vor.
Lasst hier zum Angedenken mich weinen einer Buhl’,
Am sand’gen Abhang zwischen Haumal und Aldachul,
Zwischen Mikrat und Tudech: noch unverwischt ist dort
Die Wohnspur, ob darüber schon fegte Süd und Nord.
Da hielten die Gefährten bei mir die Zügel an,
Und sprachen: O vergeh nicht vor Kummer! Sei ein Mann!
Die Thräne, welche rinnet, allein ist Heilung mir.
Doch auf zerfallnen Trümmern was hilft das Weinen dir?
Einst mit Umm el Huweirith übtest du den gleichen Brauch,
Mit ihrer Nachb’rin Umm el Rebab in Masal auch.
Da, wo sie sich erhuben, da wehte Moschusduft,
Als ob die Gewürznelken geküsst die Morgenluft.
Ich konnte hören, wie es in Babas Brust rumorte, wie seine Lunge gegen jeden einzelnen Zug aus seiner Honig-Apfel-Tabak-Pfeife protestierte.
»Baba, wen liebst du mehr, mich oder Yussuf?«
»Habibti«, begann er. Ich musste lächeln, als er mich so nannte. »Ich liebe euch beide gleich stark«, sagte er.
»Wie sehr
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