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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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brach in Lachen aus, und Hudas Angst verwandelte sich in Ärger.

    »Das ist nicht lustig, Amal!«, schrie sie. »Außerdem kannst du immer noch kein Rad und einen Überschlag noch viel weniger. « Sie wusste, wie sie mein Gelächter stoppen konnte.
    »Du auch nicht!«
    »Mir geht es ja auch nicht darum, Lamya zu übertrumpfen.«
    Das stimmte. Für Huda war es ein Spiel, doch ich betrachtete alles als Wettbewerb.
    »Sollen wir später weiterüben?«, fragte ich.
    »Ja. Lass uns auf die Alte Dame klettern.«
    Die Alte Dame war ein fünfzehnhundert Jahre alter Olivenbaum mit krummen Ästen, die sich wie Samsons Locken in der Luft kringelten. Sie stand mitten auf einer Weide. An den knorrigen kleinen Zweigen hingen Hunderte von Früchten. Außerdem diente der riesige, unförmige Stamm einheimischen Schäfern als Rastplatz.
    Baba hatte mir einmal erzählt, dass die Alte Dame niemandem gehörte. »Dieses alte Mädchen stand schon lange vor unserer Ankunft hier, und es wird noch da sein, wenn wir längst fort sind. Wie könnte man es besitzen, Habibti?«
    Ich liebte es, wenn mein Vater mich Habibti, Liebling, nannte.
    »Niemand kann einen Baum besitzen«, fuhr er fort. »Er kann zu dir gehören, wie du zu ihm gehören kannst. Wir entstammen der Erde, schenken ihr unsere Liebe und Arbeitskraft, und dafür ernährt sie uns. Wenn wir sterben, kehren wir zur Erde zurück. Auf eigentümliche Weise besitzt sie uns. Palästina besitzt uns, und wir gehören zu diesem Land.«
    Ich fragte Huda, was Baba ihrer Ansicht nach gemeint hatte.
    »Dein Baba sagt lauter seltsames Zeug. Haj Salim meint, dass er zu viel liest. Gestern habe ich gehört, wie Haj Salim zu deinem Bruder sagte, er solle deinen Vater von den Büchern
loseisen und ihn ins Beit-Jawad-Kaffeehaus schleifen, um dort mit ihm und Ammu Jack O’Malley eine Huka zu rauchen.«
    Ammu Jack war ein korpulenter Mann mit einem polternden Lachen, das von verstimmten Basssaiten in seinem großen Herzen aufzusteigen schien. Er hatte volles weißes Haar, das stets zerzaust war, und rasierte sich nicht. Sein ebenso üppiger Bart hatte infolge einer langen Liaison mit Lucky Strikes und gelegentlichen Hukas gelbe Flecken. Er verwaltete die Schulen und Kliniken für die UNO, suchte sein Büro aber nur selten auf. Lieber ging er ins Beit Jawad, um sich mit Haj Salim zu treffen, der dort seine Huka zu rauchen pflegte.
    Wir stiegen der Alten Dame auf den Rücken, hingen schaukelnd an ihren Gliedern, balancierten auf ihrem Nacken und ruhten uns schließlich auf ihrem Bauch aus, wo ihr Stamm sich in drei Hauptäste teilte.
    »Ist noch was von dem Nagellack übrig?«, fragte Huda und untersuchte die abgeplatzte rote Farbe auf ihren Nägeln.
    Eine Woche zuvor hatte Mama den Nagellack geschenkt bekommen, doch sie machte sich nichts aus solchem Luxuskram und hatte ihn mir gegeben. Mindestens zehn von uns Mädchen hatten sich getroffen, um sich gegenseitig die Nägel zu lackieren. Wir kamen uns vor wie die ägyptischen Schauspielerinnen, die in Zeitschriften abgebildet waren.
    »Noch ein bisschen«, sagte ich.
    Huda wurde munter. »Lass uns noch mal die Finger- und Zehennägel lackieren, aber ohne all die anderen.«
    »Einverstanden. Aber zuerst machen wir einen Spuckwettkampf. «
    »Hatten wir heute nicht schon genug Wettkämpfe?«, klagte Huda, lenkte aber schnell ein.

    Einen Spuckwettkampf, im Baum hängend. Wir waren mittendrin, als wir gerufen wurden.
    »Deine Spucke geht weiter, wenn du dir Rotz aus dem Kopf saugst.« Ich demonstrierte ihr, was ich meinte, und produzierte hustende, abgehackte Geräusche. »Nur normale Spucke reißt ab. Deshalb verlierst du immer.«
    »Das ist ekelhaft«, beschwerte sich Huda.
    »Amaaal! … Huuuudaaaaa!«
    Baba rief uns ins Lager zurück, wo wir unter dem Schutz internationaler Wohlfahrtseinrichtungen lebten.
    »Dein Vater ruft.« Huda sprach aus, was ohnehin klar war, eine nervende Angewohnheit. »Wieso arbeitet er heute nicht?«
    »Keine Ahnung. Lass uns gehen.«
    Wir rannten. Ich machte einen Wettlauf daraus, hielt aber inne, ehe wir die erste Reihe Betonbaracken erreichten.
    Irgendetwas war im Gang. Es waren zu viele Menschen auf den Straßen.
    Instinktiv nahmen Huda und ich uns an der Hand. Langsam näherten wir uns dem Tumult. In den Straßen und Gassen skandierten zahllose verängstigte Menschen Sprechchöre. Frauen in bestickten palästinensischen Thobas rannten herum, Körbe mit Lebensmitteln auf dem Kopf balancierend. Unsicherheit lag in der Luft.

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