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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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von beiden sprach darüber. Sie trauerten still, weil es ihnen kindisch vorkam, wegen einer Puppe zu weinen, nachdem sie Aisha begraben hatten, ein echtes Baby, das echte Tränen geweint und echtes Blut vergossen hatte. Der Verlust von Warda war trotzdem schlimmer, das war ein Geheimnis, das jede für sich behielt.
    In der Winterkälte hatten die Bäume ihre Blätter abgeworfen. Die silbrigen Zweige der Olivenbäume lagen frei und wirkten wie knorrige Hüter der Zeit, wie uralte, gigantische Hände, die sich aus der Erde herausstreckten und geduldig auf die warme Jahreszeit warteten. Über die Hügel verstreut lagen Häuser, manche von ihnen Jahrhunderte alt, mit dichten Ranken über dem Mauerwerk. Schäfer trieben ihre Herden über das Land.
    Viele Jahre später erinnerte Amal sich an diese wunderschöne, Leben spendende Landschaft, die sie für selbstverständlich gehalten hatte. Niemals hätte sie geglaubt, dass etwas so Schönes und Altes einfach so dem Erdboden gleichgemacht werden konnte. Oder dass es irgendjemanden geben konnte, der genau das wollte.

    Damals war der größte Teil des Westjordanlands noch eine grüne Landschaft, eine majestätische Schönheit, die sich im Wind bog, die in der Kälte schlief und in der Wärme neu geboren wurde. Aber das änderte sich allmählich. Ein Haus, ein Hof, ein Dorf nach dem anderen wurden zerstört, besetzt, ausgelöscht – eine unaufhörliche Enteignung. »Imperialismus, Zentimeter um Zentimeter«, nannte das Haj Salim. Heute verläuft der Weg, auf dem die Mädchen Yussufs und Fatimas Liebesbriefe transportierten, durch unwirtliche Ödnis. Hier und da finden sich Ruinen, verbrannte Autoreifen, gebrauchte Patronenhülsen und tapfer kämpfende Olivenbäumchen.
    »Ich frage mich, was so Trauriges in dem Brief stand.« Huda war besorgt. Den Weg zurück schafften sie schnell, jedenfalls bis zum Checkpoint.
    Dort fragte sie ein dünner Soldat: »Wo wollt ihr hin?«
    »Nach Jenin«, antwortete Huda scheu.
    »Nach Jenin«, wiederholte Amal und verachtete sich für ihre Unterwürfigkeit.
    Nach Aufforderung holten sie die Papiere hervor, die alle Palästinenser seit Juni 1967 bei sich tragen mussten. Diese nach Farben unterscheidbaren Karten identifizierten die Inhaber als Angehörige bestimmter Religionen und gaben Aufschluss über den Wohnort. Weitere Papiere brauchte man, um nach Osten, Westen, Norden oder Süden reisen zu dürfen. Eine Sondererlaubnis war nötig für Wege zum Arzt. Wiederum andere Ausweise gab es für Händler und Studenten. Eine einzige Person musste oft einen Stapel rosa, gelber und grüner Papiere mit sich herumtragen, die vom vielen Auseinander- und Zusammenfalten bei den Checkpoints meist schon ganz zerrissen waren.
    Auf der anderen Seite des Kontrollpunkts befragte ein anderer Soldat den vierzehnjährigen Osama Jamal, der in Jenin
wohnte – nicht im Flüchtlingslager, sondern im eigentlichen Dorf, nach dem das Lager benannt war. Osamas Vater gehörte die örtliche Bäckerei, die die Passanten mit dem köstlichen Duft von frischem Brot, Manakish und Fatayir bezauberte.
    Der Soldat warf Osama zu Boden und trat auf ihn ein. Dann zog ihn ein zweiter Soldat wieder auf die Beine und schimpfte auf Hebräisch mit dem ersten. Während die Soldaten stritten, humpelte Osama fort, mit gebrochener Rippe und angeknackstem Selbstbewusstsein. Er hoffte, dass die beiden Mädchen aus Jenin ihn nicht bemerkt hatten.
    Als sie außer Sichtweite der Soldaten waren, boten Amal und Huda an, ihm zu helfen, aber er lehnte ab. Schließlich siegten die Schmerzen über seinen Stolz, und er übergab seine Last den Mädchen. Er ließ sich von ihnen stützen, nachdem sie versprochen hatten, niemandem zu erzählen, dass er Hilfe von Mädchen angenommen hatte.
    »Du bist die Schwester von Yussuf Abulhija, stimmt’s?«, wollte er wissen.
    »Ja«, antwortete Amal ganz aufgeregt, weil er mit ihr gesprochen hatte. »Deine Nase blutet.«
    Huda holte ein Tuch aus der Tasche, wo sie stets einen ganzen Vorrat mit sich herumtrug. Mehr als einmal hatte sie Amal erklärt: »Man weiß nie, wann man ein Taschentuch braucht.«
    Noch nie war Amal einem Jungen so nahe gewesen, abgesehen von Yussuf, ihrem Vater oder Ammu Darwish. Sie fühlte schüchterne Erregung und einen verlegenen Kloß im Hals. Sein Arm um ihre Schulter drückte ihren Kopf nach vorne und zwang sie, auf den Boden zu schauen. Irgendetwas flatterte in ihrem Bauch herum. Schweigend gingen sie, während Osama angestrengt keuchte und

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