Während die Welt schlief
Amal sich auf eine Falte in seiner Hose konzentrierte, die im Rhythmus seiner Schritte in dem Stoff auftauchte und verschwand.
»Kauft ihr euer Brot bei meinem Vater?«, fragte Osama mit schmerzverzerrter Stimme. Amal hob den Kopf. Aber er sprach nicht zu ihr. Doch Huda fand ihn so uninteressant wie er Amal.
»Nicht reden, das macht es noch schlimmer«, erwiderte Huda mit für sie ungewöhnlicher Selbstsicherheit, die ein wenig gezwungen wirkte. Amals Schüchternheit wurde vom aufkommenden Neid hinweggefegt.
Als Amal nach Hause kam, hielt Yussuf Mamas Hand und sprach in die unbewegte Stille über ihren leeren Augen.
»Brauchen wir Brot? Ich kann welches einkaufen«, unterbrach sie ihn, ohne auf die spürbar drückende Atmosphäre im Raum zu achten. Sie wollte so schnell wie möglich wieder in Osamas Nähe sein.
»Amal, ich muss mit dir reden«, sagte Yussuf. »Aber nicht jetzt. Kannst du ein bisschen bei Mama bleiben? Ich bin bald zurück.« Und weg war er. Amal wartete ungeduldig darauf, was Yussuf mit ihr besprechen wollte. Außerdem war sie neugierig, warum Fatima geweint hatte. Gereizt setzte sie sich neben Mama und betrachtete sie lieblos.
Dalia schaute ihre Tochter an. Kurz tauchte sie aus den unergründlichen Tiefen ihres Bewusstseins auf, berührte Amals Haar mit den Lippen – endlich wie eine Mutter – und sagte: »Yussuf verlässt uns.« Und schon glitt sie wieder unter die Oberfläche. Komm zurück, Mama! , rief Amals Herz, aber Mama war schon wieder dort, wohin niemand ihr folgen konnte.
Amal wusste, dass Mama die Wahrheit gesprochen hatte. Yussuf verließ sie. Sie hatte Angst davor, dass die Israelis ihn fangen würden. So viele Männer hatte sie gesehen, die gefesselt an einen Ort gebracht wurden, von dem sie – wenn überhaupt – gebrochen und vernichtet wiederkehrten. Sie spürte,
dass etwas Schreckliches passieren würde. Etwas, das sie noch nicht sehen oder erfassen konnte, wie der heiße Atem eines versteckten Untiers. Sie erschauderte, und ihre Beine liefen einfach los, ohne Ziel.
Huda. Wo war sie?
»Huuudaaa«, rief Amal unter dem Fenster ihrer Freundin.
Hudas Kopf erschien im Fenster, gerade lange genug, um zu rufen: »Nicht jetzt. Ich komme später rüber. Ich kann jetzt nicht reden. Bis dann.«
Gott, was ist hier los? Amal rannte los, ohne jegliche Kontrolle über ihre Beine. Ihre Brüste schmerzten bei jedem Schritt. In ihren Augen standen Tränen, und ihre Lungen brannten von der kalten Luft, bis sie schließlich erschöpft auf die Knie fiel, im Garten mit den Pfirsichbäumen – dort, wo früher zur Erntezeit hektisches Treiben geherrscht hatte, dort, wo sich im Winter junge Verliebte getroffen hatten, außerhalb der Sichtweite ihrer wachsamen Eltern. Jetzt war der Pfirsichgarten für Araber verboten – ein weiteres Gebiet, das sie nicht zu betreten wagte.
Und doch war sie hier, hinter der ersten Baumreihe.
19
Yussuf geht
1968
D a war ich, hinter der ersten Baumreihe im Pfirsichgarten, und es wurde langsam dunkel. Es war kalt, und ich war zu einsam, um Angst zu haben. Ich legte die Arme um meinen Körper und stellte mir vor, ich würde in Osamas Armen liegen. So schlief ich ein unter dem sternenübersäten Himmel. Ich erwachte noch vor Sonnenaufgang inmitten einer dünnen Nebelschicht, die ganz dicht über dem Boden schwebte.
Ich weiß nicht mehr, was in mir vorging, als ich die Augen öffnete, aber wenn ich heute an diesen Morgen und an die Natur um mich herum zurückdenke, stockt mir der Atem. Ich sah die pittoreske Landschaft, in der meine Eltern aufgewachsen waren – sanft geschwungene Täler, sattgrüne Wiesen, so weit das Auge reichte. Olivenhaine mit Bäumen, die wie hundertjährige Großeltern wirkten: runzlig, gebeugt, die schweren Arme wie zum Gebet erhoben. Diejenigen, die dieses wunderschöne, seit Moses’ Zeiten grüne Land am blauen Mittelmeer genommen hatten, behaupteten, es sei eine »Wüstenei« gewesen, die sie zur »Blüte« gebracht hatten. Die Sonne goss ihr Licht wie gelbe Farbe über die Hügel und erleuchtete die alten,
verlassenen arabischen Häuser. Keine Menschenseele war zu sehen, und plötzlich war ich mir sicher, ich hätte die wunderbare Verlockung der Einsamkeit verstanden.
Zerstreut fasste ich mir an meine neuen Brüste. Von Neugier überwältigt berührte ich sie mit Gedanken, die Schuldgefühle in mir erzeugten. Scham erfüllte mich und ließ mich an die Heilige Schrift, Sünde und Bestrafung denken. Aber meine Hand wanderte wie
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