Während die Welt schlief
Unterdrückten.
Ich konnte das Radio hören, das im Kaffeehaus von Beit Jawad plärrte.
»Komm, ich helfe dir. Lass uns hingehen«, schlug Huda vor und legte mir einen Arm um die Schulter.
Draußen hielt ich mir eine Hand vor die Stirn, um meine Augen vor der Sonne zu schützen. Vor dem Radio hatte sich eine fröhliche, singende Menschenmenge versammelt. Yussufs Freund Amin stand auf einem Tisch des Kaffeehauses und hielt den Radio-Lautsprecher hoch. Alle verstummten, als die Stimme Jassir Arafats erklang. »Wir haben es geschafft«, verkündete die Stimme, »… der Welt zu zeigen, dass ein Palästinenser nicht länger Flüchtling Nummer soundsoviel ist, sondern Angehöriger eines Volkes, das Herr seines eigenen Schicksals ist und seine Zukunft selbst gestalten wird.« Ich bekam eine Gänsehaut.
»Allahu akbar«, brüllte die Menge. Die Menschen von Jenin sangen und tanzten voller Stolz und Selbstbewusstsein. Haj Salim drängte sich durch die Menschenmassen, als er mich entdeckte. Er beugte sich zu mir herab und gab mir einen Kuss
auf die Wange. »Dein Bruder hat in Karameh gekämpft. Was sagt man dazu? Es geht ihm gut, soweit ich gehört habe.« Er lächelte zahnlos, strahlte geradezu, drehte sich um, klatschend und tanzend. Ich sah, wie er Jack O’Malley einen Arm um die Schulter legte, während alle um sie herum fröhlich sangen:
»Karameh, Karameh!«
»Yussuf Abulhija! Jenins Fedayin!«
»Allahu akbar!«
Sogar als Soldaten erschienen, um die Menge zu zerstreuen, ebbte das Konzert der Revolution nicht ab. Aus den Fenstern klang Musik, und das Zagharit der Frauen tönte durch die Dämmerung. Der Duft von frisch Gebackenem zog durch die Dunkelheit und versüßte uns die Nacht, als die Köstlichkeiten schließlich zu uns gebracht wurden, zu Ehren der Tapferkeit meines Bruders. Oh Karameh!
Huda und ich und die anderen Mädchen feierten auch. Doch ich war zu schwach, um richtig mitzumachen, und konnte nur zusehen, wie die anderen tanzend in der Dunkelheit verschwanden.
»Es ist Ausgangssperre, da haben wir morgen wenigstens keine Schule«, sagte Lamya, und die anderen stimmten begeistert zu.
In unserer Aufregung (und unserer kindlichen Naivität) malten wir uns genau aus, wie wir in unsere Heimatdörfer zurückkehren würden. Wir glaubten, das sei die unvermeidliche Folge der Schlacht von Karameh. Unsere unschuldigen Überlegungen verrieten, wovon wir träumten. »Ein richtiges Bett.« »Keine Soldaten.« »Ein Spielplatz.« »Ein Garten.« »Ein Fahrrad.« Und weiter ging die Liste unserer einfachen Wünsche. Wir schrieben alle auf und verglichen unsere drei größten Träume untereinander.
Huda wollte für ihr Leben gern am Strand sitzen. »Bloß sitzen«, sagte sie, »… weil ich doch nicht schwimmen kann.«
Diese Worte habe ich niemals vergessen. Die Bescheidenheit ihres größten Wunsches bringt mich noch heute zum Weinen.
Das Fernsehen zeigte die Bilder der durch Amman marschierenden Fedayin, und die Erwachsenen drängten sich um die wenigen Geräte in Jenin. Das Kaffeehaus von Beit Jawad hatte einen solchen Apparat, um den alle sich scharten. Ich entdeckte Haj Salim und Ammu Jack O’ Malley an ihrem üblichen Tisch. Sie versuchten, die Leute wegzuscheuchen, die ihnen die Sicht nahmen. Überall sprach man nur noch über die politischen Ereignisse. In Jordanien fanden sich die Massen zusammen, um ihre Solidarität zu bekunden. Frauen und Kinder warfen Blumen für die Revolutionäre. Erwachsene Männer weinten und drängelten sich durch die Massen, um ihre palästinensischen Brüder zu küssen. Die Bewegung wuchs über Nacht immer weiter an. Aus allen arabischen Ländern kamen junge Männer, um sich der PLO anzuschließen. In Jenin packten viele ihre Koffer, um ebenfalls beizutreten, aber sie wurden von den Israelis verhaftet, die ihre bezahlten Informanten überall sitzen hatten.
Einen Monat später herrschte noch immer strikte Ausgangssperre. Die absurden Listen unserer Mädchenträume waren bald reif für die riesigen Müllhaufen, die sich vor unseren Häusern angesammelt hatten. Schließlich fuhr ein Armeejeep durch die Straßen, dessen Besatzung uns wieder erlaubte, das Haus zu verlassen. Sogar Lamya freute sich darauf, endlich wieder in die Schule gehen zu dürfen.
21
Ausklänge
1969
M ama und Umm Abdallah saßen auf dem windschiefen Balkon und strickten. Ab und zu blickten sie auf, um die Welt um sich herum zu beobachten, ließen dabei aber keine einzige Masche aus. Mama hatte sich
Weitere Kostenlose Bücher