Während die Welt schlief
unregelmäßigen Vorderzähne entblößte. Das »seltsame kleine Mädchen mit den Katzenaugen« war zu einer Kleopatra herangewachsen, mit seidigen schwarzen Haaren und wunderschönem Oliventeint. Osama wurde von allen jungen Männern im Ort beneidet.
Huda und ich waren vierzehn, als wir eines heißen Juniabends Mama leblos in ihrem Bett fanden. Langsam gingen wir auf sie zu, nachdem wir die Petroleumlaterne an der Wand angezündet hatten. Wie immer, wenn uns bange war, fassten wir uns an den Händen. Mama lag auf der Seite, so schlief sie für gewöhnlich. Der Schatten ihres Körpers flackerte im Licht der Lampe an der Wand hinter dem Bett. Die murmelnden Stimmen der Menschen von draußen und der schale Geruch des Endes krochen in den schmalen Spalt, der die Lebenden von den Toten trennte. Dort, auf der verblichenen Schaumstoffmatte auf dem Boden, vor der nackten, abbröckelnden Wand unserer Behausung, in der notdürftigen Nation der Vergessenen, war Mama gestorben, ganz allein.
Meine Augen weinten stille Tränen. Ich weinte nicht um diese Frau, sondern um meine Mutter, die diesen Körper schon vor Jahren verlassen hatte. Ich weinte bittersüße Tränen, weil sie diese hurenhafte Welt, die ihren Geist geschändet hatte, endlich hinter sich lassen durfte. Ich weinte, denn ich spürte Schuldgefühle. Warum war es mir nicht gelungen, sie zu retten, irgendwie? Ich weinte, weil ich es nicht schaffte, sosehr ich mich auch bemühte, in diesem kleinen, farblosen Körper die Frau zu entdecken, die mir das Leben geschenkt hatte. Und ich weinte, weil mir eine traurige, karge Zeit, übersät mit Leichen, bevorstand. Huda weinte um mich. Nur Umm Abdallah, die ihre ständige Kameradin kurz alleine gelassen hatte
und wiedergekommen war, um sie zu wecken, weinte um Mama. Sie war die Einzige, die den Menschen gekannt hatte, der in der abgemagerten Hülle zu Hause gewesen war, die wir nun zu dritt beweinten.
Irgendwo zwischen mir und dem toten Körper meiner Mutter schwebte die Erinnerung an eine Zeit, in der Dalia mir gezeigt hatte, wie man ein ungeborenes Kind im Mutterleib dreht. Das Baby würde sterben, das glaubten alle. Vielleicht auch die Mutter. Jedenfalls hatten die Menschen Angst. Endlich erschien Dalia. »Umm Yussuf, die Hebamme, ist mit ihrer Tochter Amal gekommen«, verkündete jemand, als wir in das Haus eilten, in dem die Frau sich seit Stunden quälte. Ebenso lange hatten wir auf die Erlaubnis warten müssen, unser Haus während der Ausgangssperre verlassen zu dürfen. Am Ende hatten wir keine bekommen und uns einfach weggeschlichen. Ihre Spezialschere hatte Dalia in ihre Thoba gehüllt. Die schwangere Frau war völlig erschöpft davon, ihren eigenen Schmerz wegzuschreien und den Tod von ihrem Kind fernzuhalten. Der Raum, in dem die Frau lag und wimmerte, war erfüllt von schummrigem Licht und dem Geruch der Geburt. Dalia legte der Frau eine Hand auf die Stirn, die andere auf den Bauch und begann, ein Gebet zu sprechen.
»Atme, mein Kind. Leg alles in Allahs Hand. Es gibt keinen besseren Ort für dich als Seine Hand. Atme, mein Kind.« Mamas Ruhe war ansteckend. »Hilf mir, sie anzuheben«, bat sie mich. Die Tante der Frau trat ebenfalls vor, und zu dritt drehten wir die Schwangere. Ihre Beine lagen auf den Kissen, die Schultern hingen über die Bettkante. »Das Baby liegt verkehrt herum und könnte in die Nabelschnur verwickelt sein. Allahs Wille soll geschehen.« Mama forderte die Anwesenden auf: »Geht raus und betet für sie, ich rufe, wenn wir Hilfe brauchen.«
Wir , sie und ich.
»Leg deine Hände hier hin«, befahl sie mir. Ihre eigenen legte sie auf die andere Unterleibsseite der Frau. »Schließ die Augen, bis du eine Bewegung spürst, und lass Allah deine Hände führen.« Ich hatte Angst, aber ich begriff, was ich zu tun hatte. Was immer du fühlst, lass es nicht heraus.
Mama summte, als würde sie dem Baby etwas vorsingen, und rieb die Haut der Schwangeren. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Plötzlich war da eine Bewegung! »Jetzt hilf mir. Beweg die Hände so«, sagte sie, noch immer ruhig, noch immer summend. Die Frau stöhnte, blieb aber ruhig. Atme, mein Kind. Ich atmete, und meine Hände bewegten sich mit dem Kind, auf der entgegengesetzten Seite von Mamas Händen.
Jetzt waren wir so weit. Die Frauen kamen zurück. »Eure Gebete haben geholfen«, sagte Mama zu ihnen, »aber meine Tochter hat den schwierigsten Teil getan.« Sie schaute mich über den Bauch der Frau hinweg an und verkündete:
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