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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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schon längst in den Tiefen ihrer Seele verirrt, und nicht mal ihren eigenen Körper schien sie noch zu bewohnen. Sie musste Windeln tragen. Umm Abdallah, die treue Seele, kümmerte sich um die persönliche Hygiene meiner Mutter.
    Mamas Augen wirkten leer, ihre Haut war runzlig, und ihr Atem ging rasselnd. Meine Familie war fort, ich stand kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag, und mein Körper hatte sich grotesk verändert. Das Leben war launenhaft und unbeständig. In einer Sekunde schenkte es mir alles, wovon ein junges Mädchen träumt: prickelnde Verliebtheit, die erste Schwärmerei für einen Jungen und die Verheißung, endlich zur Frau zu werden. In der nächsten Sekunde bedachte es mich auf grausam-gleichgültige Art mit entstellter Haut, Misstrauen und dem Gefühl der Verlassenheit.
    Ein Stück meiner weichen, glatten Haut war aus meiner
Taille gerissen worden. Die kleinen Engel, die uns Menschen auf der Schulter sitzen und Allah unsere Sünden berichten, triumphierten: »Wir haben’s dir doch gesagt!« Ich glaubte fest daran, dass der Schrecken, der auf meinem Körper geschrieben stand, die Strafe Gottes für die Sünde der Masturbation war. Demütig verneigte ich mich vor den redseligen Engeln und fügte mich dem ewigen Fegefeuer.
    Ich hatte nichts mehr, nur den Traum meines Vaters, für den er sich sein Leben lang krummgelegt hatte: Seine Kinder sollten eine ordentliche Ausbildung bekommen. Ich lebte nur noch dafür, obwohl ich selbst gar kein Verlangen nach Lernen und Wissen empfand. Träume hatte ich keine, nur den Wunsch nach Liebe und Freiheit – nach all dem, was ich während der Sonnenaufgänge mit meinem Vater gespürt hatte.
    Um Baba zu ehren und seinen Traum wahr werden zu lassen, verschlang ich alle möglichen Bücher: über Geschichte, Literatur, Mathematik und Naturwissenschaften. Nachts befühlte ich das vernarbte Fleisch an meinem Bauch. Ich wollte mich selbst bestrafen und dafür sorgen, dass meine einsame Lernerei durch nichts unterbrochen wurde. Ich war beschädigte Ware, die kein Junge würde haben wollen. Wegen des Muskelschwundes konnte ich eine Zeit lang nur humpeln – dadurch fühlte ich mich noch hässlicher.
    Huda begleitete mich durch meinen Genesungsprozess, aber ich stieß sie weg. Heute muss ich mir voller Scham eingestehen, dass ich ihr den gesunden Körper missgönnte und ihr Schlechtes an den Hals wünschte. Ich wollte eine Freundin, die mit mir zum Club der Zänkischen, Elenden und Verstümmelten gehörte. Aber sie hielt immer zu mir, blieb loyal und machte mir keine Vorwürfe.

    Obwohl mein Körper solch einen schweren Angriff gegen sich hatte hinnehmen müssen, war er immer noch darauf programmiert, vor Sonnenaufgang zu erwachen. Das war meine tägliche Gedenkzeremonie für Baba. Seine Gesichtszüge verblassten allmählich in meinem Gedächtnis. Inzwischen hatte ich nur noch einen vagen Geruch von Apfel-Honig-Tabak in der Nase, wenn ich an ihn dachte. Die Bücher, die er geliebt hatte, las ich wieder und wieder. Wenn ich heute eine Wunschliste materieller Dinge erstellen würde, wie damals als junges Mädchen nach der Schlacht von Karameh, dann würden darauf nur diese zerfledderten alten Bücher stehen.
    Ich bedeckte meine neue Haut mit Papier und Tinte. Meine Mutter, die zusehends schwächer wurde, beachtete ich nicht. Ebenso wenig die krassen Übergriffe der gebieterisch auftretenden Soldaten und die aufkeimende Liebesgeschichte zwischen meiner besten Freundin Huda und Osama.
    Bald hatte ich einen Ruf als vielversprechende Schülerin weg. Aus der Selbstverbannung trat ich in die Aufmerksamkeit der Erwachsenen im Lager. Sie betrachteten mich mit anerkennenden Augen, auch weil ich mir nichts aus Jungen machte. Das hielten sie für Glaubensstärke, aber ich selbst wusste, genau wie Huda, dass ich mich einfach nur minderwertig fühlte. Als ich schließlich aus dem Sibirien meiner Bockigkeit zurückkehrte, konnte ich Hudas treue Freundschaft wieder annehmen, und wir machten da weiter, wo wir aufgehört hatten.
    Während ich in Scham, Reue und Fleiß ertrank, war Huda gerade dabei, sich zu verlieben. Inzwischen wussten alle im Lager, dass sie Osamas Mädchen war, und es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis die beiden heiraten würden. Auch Huda veränderte sich körperlich. Ihre Wangenknochen wölbten sich unter ihren gesprenkelten, raubkatzenartigen Augen, und ihre Lippen wurden voller und hatten einen eleganten
Schwung, wenn sie lächelte und ihre ganz leicht

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