Während die Welt schlief
Bahiya. Sie fürchtete anscheinend, ich könnte ihre guten Absichten missverstehen. »Du bist jederzeit willkommen bei uns allen, jederzeit und so lange du möchtest.«
Ammu Jack, immer noch vorgebeugt, aber nicht mehr so eindringlich schauend, fügte hinzu: »Dort sind Mädchen wie du gut aufgehoben, und die Schule hat einen hervorragenden Ruf.«
Mädchen wie ich?
Die Schule, die als strenge akademische Institution galt, war außerdem ein Waisenhaus. Ich, das palästinensische Waisenkind mit ausgezeichneten Noten, würde dort ohne Weiteres aufgenommen werden, noch dazu ohne Schulgeld. Sie hatten das Thema schon diskutiert, als Mama noch am Leben war,
weil Ammu Jack der Meinung war, ich hätte bessere Chancen auf ein Universitätsstipendium, wenn ich meinen Abschluss an dieser Schule machen würde.
Haj Salim erklärte es mir in anderen Worten. »Dein Vater hätte es so gewollt«, sagte er und traf damit einen sensiblen Punkt in mir. »Jeder weiß, dass du die Liebe deines Vaters für Bücher geerbt hast. Und du bist den anderen schon zu weit voraus, an unseren Schulen kannst du nichts mehr lernen.«
Dann sagte er den Satz, der zu seinem Markenzeichen geworden war: »Ich hab alles schon erlebt.« Es folgte ein Monolog, dem ich damals gelangweilt lauschte – doch viele Jahre später begriff ich, dass Haj Salim mir den weisesten Rat gegeben hatte, den ich jemals von einem anderen Menschen bekommen habe. »Wir alle werden mit den größten Schätzen geboren, die wir im Leben haben können. Einer dieser Schätze ist dein Verstand, ein anderer dein Herz. Und die unverzichtbaren Werkzeuge dieser Schätze sind Zeit und Gesundheit. Indem du nun diese von Allah geschenkten Schätze dafür einsetzt, dir selbst und der Menschheit zu helfen, ehrst du ihn. Ich zum Beispiel habe mein Herz und meinen Verstand dazu benutzt, unserem Volk seine Geschichte nahezubringen. Ich will nicht, dass wir zu gedächtnislosen Kreaturen werden, die der Ungerechtigkeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind.«
Sein durchdringender Blick schien gleichzeitig meine Vergangenheit und meine Zukunft zu durchleuchten, und in seinem runzligen braunen Gesicht lag eine Ernsthaftigkeit, die mir unmissverständlich klarmachte, dass er die Wahrheit sprach. »Wir sind traurig, wenn wir einen von uns ziehen lassen müssen. Für die Verwandten ist das schwer. Aber du hast dich Allahs Geschenk würdig erwiesen, durch harte Arbeit und Disziplin. Wir alle wissen, dass wir dir dabei helfen sollten,
dein Ziel zu erreichen. Sonst würden wir Allahs Geschenk missachten.«
Wie gelähmt saß ich da und fühlte mich wie eine akademische Hochstaplerin. Ich hatte nichts getan, um die hohe Meinung zu rechtfertigen, die die anderen von mir hatten. Die harte Arbeit und die Disziplin, von denen Haj Salim gesprochen hatte, waren im Grunde bloß Feigheit und die Angst vor meiner Nutzlosigkeit, vor göttlicher Bestrafung, vor Zurückweisung. Angst vor Licht und Lärm, die sich zu Angst vor dem Krieg, vor Tod und vor Kugeln, die sich in mein Fleisch bohrten, gesteigert hatte. Ich versuchte klarzustellen, dass es nicht um ein Geschenk Allahs ging, sondern einzig und allein um meine Angst. Verzweifelt bemühte ich mich, meine ehrlichen Worte halbwegs sinnvoll und verständlich auszusprechen.
»Aber …«, begann ich. »Ich … also, ich meine … ich … Oh Gott, ich habe nicht … es ist nicht, wie ihr denkt … Ihr versteht das nicht.« Endlich brachte ich heraus, was mein Leben bestimmte, seit Baba fort war: »Ich habe Angst.«
Ich spuckte diese Worte regelrecht aus. Meine Lippen zitterten, und ich weinte beinahe. Es war die Unberechenbarkeit, vor der ich mich am meisten fürchtete und die ich hasste.
»Ma’alesh.« Khaltu Bahiya versuchte, mich zu trösten, aber gerade brauchte ich keinen Trost, sondern Nahrung. Mein Magen knurrte laut und erinnerte mich daran, dass ich den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte. Khaltu Bahiya hatte schon gekocht: Hummus, Spiegeleier, Salata, Reste von der Kosa. Sie breitete alte Zeitungen auf dem Boden aus und richtete die Speisen darauf an. Wir teilten uns die verschiedenen Gerichte. Besteck benutzten wir keines, sondern tunkten Brotstücke in die Schüsseln. Die Hühner bekamen eine Handvoll altes Brot hingeworfen und pickten danach. Viele Jahre später, als ich gelernt hatte, wie Business-Lunches in den Vereinigten
Staaten ablaufen, dachte ich lächelnd an unsere Tischsitten zurück und amüsierte mich bei der Vorstellung, was
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