Während die Welt schlief
passieren würde, wenn ich mit meinem Brot etwas vom Teller meines Nachbarn stibitzte.
Als alle gegangen waren, blieb ich bei Ammu Darwish. Khaltu Bahiya hatte sich neben meinen Cousin Fuad gelegt, dessen Fieber zurückgegangen war. Inzwischen war er hellwach und malte Bilder auf Khaltus schlafendes Gesicht. »Wo ist seine Mutter?«, fragte ich, weil mir gerade aufgefallen war, dass sie nicht anwesend war.
»Sie besucht ihre Eltern«, antwortete Ammu Darwish. Da wurde mir klar, dass er sich mit seiner Frau gestritten und sie ihn mit den Kindern alleingelassen hatte. Das passierte häufiger, und meistens kehrte sie nach ein paar Tagen zurück.
An diesem Abend erfuhr ich auch, was es mit Dalias vor vielen Jahren gebrochenem Knöchel auf sich hatte. Es war vor langer Zeit passiert, als ich noch nicht geboren war und weder der Staat Israel noch die Flüchtlingslager existiert hatten. Mein Onkel zeigte mir ein Bild, auf dem ein schneidiger junger Mann mit weißem Turban auf einem schwarzen Araberpferd zu sehen war. Er erzählte, dass der Mann gerne meine Mutter geheiratet hätte. Ich konnte kaum glauben, dass der Mann auf dem Bild und mein Onkel Darwish ein und dieselbe Person waren. Die Geschichte, die er mir erzählte, klang in meinen Ohren wie eines von Dalias Gedichten, versunken zusammen mit einem Palästina, das es nicht mehr gab.
»Ist das Ganush?«, fragte ich. Endlich bekam ich ein Bild des berühmten Familienpferdes zu sehen.
»Ja! Das ist er«, antwortete Ammu Darwish, und seine Miene hellte sich auf. Mithilfe seiner Arme rollte er seinen Rollstuhl ein Stück näher zu mir heran und begann, Anekdoten von Ganush und Fatuma zum Besten zu geben. Er erzählte
von der Ziege, die Fatuma für ihre Mutter gehalten und die gemeckert hatte, sobald Fatuma sich von ihr entfernte, und davon, wie er immer im Stall hatte schlafen müssen, wenn es donnerte, um die Pferde zu beruhigen. Er schilderte, wie sie ihn durch Galiläa und an der Mittelmeerküste entlanggetragen hatten, schnell wie der Blitz. Und dass diese wunderbaren Geschöpfe wahrscheinlich die Liebe seines Lebens waren.
Dieser Abend mit meinem Onkel zählt zu den Begebenheiten in meinem Leben, die in meiner Erinnerung immer schöner werden, je mehr Zeit ins Land geht. Ammu Darwish erzählte von der Zeit, als Baba und er junge Burschen gewesen waren, von Jiddu und Teta und von meinen Urgroßeltern. Es war fast wie früher mit Baba. Da wusste ich, dass ich am liebsten bei meinem Ammu bleiben und nicht ins Waisenhaus oder zu Khaltu Bahiya nach Jerusalem ziehen wollte. Aber als ich meine Gedanken aussprach, verdüsterte sich seine Miene, und um seine Augen legten sich Falten.
»Schau mal«, sagte er und deutete auf das Foto von sich selbst. »Das bist du, und wenn du hierbleibst, wirst du dich in das verwandeln, was ich jetzt bin.« Sein Gesicht entspannte sich wieder, und ich begriff, dass mein Onkel einen Waffenstillstand mit seinem Schicksal geschlossen hatte, um der Verbitterung zu entgehen.
»In einem Flüchtlingslager hast du keine Zukunft, Amal. Hier gibt es keinen Grund zur Hoffnung. Jetzt bekommst du die Chance, dich aus diesem Dasein zu befreien. Ergreif sie!«
»Aber ich will nicht weg aus Jenin.«
»Dann muss ich dich irgendwie dazu überreden. Denn eines Tages, wenn ich deinem Vater wieder begegne, muss ich ihm berichten, wie ich seine Tochter auf den richtigen Weg geführt habe. Auf den Weg, den er für dich gewählt hätte.«
Das war alles, was mein Onkel zu sagen brauchte.
22
Auf Wiedersehen, Jenin
1969
E ine Schar aus Freunden und Familie hatte sich vor dem kleinen Haus versammelt, dessen einzige Bewohnerin ich war. Sie waren gekommen, um mich zu verabschieden, in einer Kuss- und Umarmungszeremonie, die in der brütenden Sommerhitze bereits seit Stunden andauerte. Die ganze Zeit über, von der Ankunft der ersten Gäste bis zu meiner Abfahrt in einem gelben Taxi mit Ammu Jack, hielten Huda und ich uns fest an den Händen. Osama war auch da, schwirrte um Huda herum und warf ihr verliebte Blicke zu. An Hudas feuchter Hand spürte ich die geheime Liebe zwischen ihnen. In unserer streng religiösen Kultur durfte Osama seiner Angebeteten nicht einmal einen züchtigen Kuss auf die Wange geben.
Ammu Darwish und seine Frau – sie war inzwischen zurückgekehrt – waren auch da. Die beiden hatten ihre fünf Kinder dabei – und viele Geschenke und gute Ratschläge für mich. »Streng dich an und vernachlässige niemals das Gebet«, flüsterte
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