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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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mein Ammu mir zu und gab mir einen zarten Kuss, der unseren frisch geschlossenen Bund besiegelte. Ammu und seine
Familie hätten mich gerne im Taxi begleitet, aber nur die Ausländer durften sich frei bewegen.
    Umm Abdallah drückte mir einen Kuss auf die Stirn, mit den Gefühlen einer Mutter, die keine Unterschiede zwischen eigenen und fremden Kindern machte. Haj Salim trug Ammu Jack auf, den Leuten im Waisenhaus einzuschärfen, gut auf mich aufzupassen. »Merk dir gut, was du denen im Waisenhaus von mir ausrichten sollst«, bekräftigte er mit zahnlosem Mund und mahnendem Zeigefinger.
    »Ich habe es schon wieder vergessen«, neckte Ammu Jack ihn und schickte sein Lachen hinterher.
    »Verdammter Ire!«, rief Haj Salim und drehte sich weg, um sein Grinsen zu verbergen.
    Khaltu Bahiya war schon wieder nach Tulkarem zurückgekehrt. Wir hatten uns vor ihrer Abreise voneinander verabschiedet. Nachbarn und Freunde nahmen mir das Versprechen ab, mich zu melden, wenn ich irgendetwas bräuchte.
    »Ganz egal, was, Amal.«
    »Möge Allah euer Leben verlängern und euer Vermögen mehren«, dankte ich ihnen.
    Es folgten tränenreiche Umarmungen und viele Wünsche und Kommentare wie »Gott sei mit dir«, »Gesegnet seist du« und »Ich kann nicht glauben, dass wir eine von uns einfach wegschicken«.
    Lamya, deren rundes Gesicht mit getrockneten Tränen verklebt war, nahm meine freie Hand und legte zwei Würfel hinein. »Hier«, sagte sie voller Reue und schloss meine Hand um die Würfel. »Die habe ich von deinem Tisch in der Schule genommen. « Das musste Jahre her sein, oder sie hatte die Würfel von einem anderen Tisch stibitzt, denn ich konnte mich überhaupt nicht an sie erinnern. Ich dankte ihr, und wir umarmten uns zu dritt. Im Stillen amüsierte ich mich darüber, wie Lamya
sich jahrelang dafür geschämt haben musste, ein Waisenkind bestohlen zu haben.
    Osama stand in der Menge, die sich auf der staubigen Straße Richtung Flüchtlingslager gebildet hatte. Huda und ich umarmten uns lange und weinten. Sie flüsterte mir ins Ohr, dass Osamas Familie zu ihrer kommen und um ihre Hand anhalten wollte. Meine Freundin wünschte sich mehr als alles andere, in Osamas Liebe einzutauchen. Ich freute mich sehr über die Neuigkeit.
    »Gratuliere!« Ich drückte Huda noch fester.
    »Ich werde dich vermissen, Amal. Es ist, als müsste ich eine Hälfte von mir ziehen lassen«, schluchzte sie an meiner Brust.
    Wir weinten beide, Huda tränenreich und ich still und verkrampft, wie meine Mutter. Wir waren ineinander verschlungen, in einer Umklammerung, die mir vorkam wie ein Epos, das nicht zu Ende gehen sollte. Eine Kindheitsgeschichte, die wir zusammen erlebt hatten, Zeile für Zeile, stand kurz vor ihrem Schluss. Wir wussten beide, dass es in dem Moment so weit sein würde, in dem wir unsere Arme voneinander lösten.
    »Seid nicht traurig, ihr beiden. Ihr werdet euch wiedersehen«, rief Ammu Jack aus dem Taxi und winkte mich zu sich.
    Es war Zeit zu gehen.
    Huda und ich beendeten unsere Umarmung, und ich stieg ins Taxi. Kleine Kinder rannten der Staubwolke des Autos hinterher. Die Menschen, die ich liebte, wurden im Rückfenster des Taxis immer kleiner und verschwanden schließlich, als wir um die Kurve fuhren. Ich hielt Lamyas Würfel noch immer fest in der Hand und drehte mich nach vorne. Das aufgeheizte Vinyl der Rückbank brannte sich durch meine Kleidung hindurch in meine Oberschenkel – und durch den Abschiedsschmerz. Ich wunderte mich, warum ich nicht trauriger war, und versuchte, mich wieder in die Wehmut der letzten Minuten
hineinzuversetzen, aber es klappte nicht. Es war, als hätten Gitterstäbe meine Emotionen umschlossen.
    »Kaum zu glauben, dass ich dich seit deiner Geburt kenne«, sagte Ammu Jack und schaute mir prüfend ins Gesicht. »Du bist so klug wie Hasan und so zäh wie Dalia.« Jetzt blickte er nach vorne. »Deine Eltern waren gute Menschen. Gott schütze ihre Seelen.«
    Ihre Seelen. Ihre.
    Ich erwiderte nichts. Meine Zähne hatte ich fest aufeinandergepresst, und ein paar Tränen liefen mir aus den Augen. Ich weinte – dieses Mal, und zum ersten Mal, weil ich meine Mutter vermisste.
    Was immer du fühlst, lass es nicht heraus.
    Nach mehr als einer Stunde Fahrt deutete Ammu Jack aus dem Fenster auf Jerusalem. In der Ferne erhob sich der Dom. »Da liegt die Stadt.«
    Der Tempelberg mit Felsendom und Al-Aqsa-Moschee, von wo der Prophet Muhammad in den Himmel aufgefahren war, war der Punkt, an dem sich alle

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