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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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Geschichten über Jerusalem trafen. Ich dachte daran, wie ich im Inneren von al Aqsa gestanden hatte, neben einem der zwölf massiven Marmorpfeiler, die den Felsen der Himmelfahrt umschließen. Das Bild dieses Pfeilers, der höher war, als mein fünfjähriger Verstand fassen konnte, bildete meine Erinnerung an einen Familienausflug nach Jerusalem 1960, bevor Israel die Stadt erobert hatte. Mama hatte immer ein Foto in Ehren gehalten, auf dem wir vier – sie und Baba, Yussuf und ich – abgebildet waren, im gefliesten Innenraum, die goldene Kuppel über uns. Es war unser einziges Familienbild. Die Kamera fing mich in dem Moment ein, in dem ich das Bein meines Vaters umklammerte – als hätte ich fotografisch festhalten wollen, dass er nur mir gehörte.
Ich wirkte klein und ernst. Als ich das Foto nach Mamas Tod fand, war ich entsetzt darüber, wie selten ich gelächelt hatte. Vaters Gesicht, groß und sanft, enthielt die Spur eines Lächelns, aber seine Lippen waren ganz entspannt. Er lächelte mehr mit den Augen. Mama stand neben ihm, aufrecht wie immer. In ihren Augen erahnte man unermessliche Tiefen. Yussuf stand auf ein Bein gelehnt und zeigte sein charakteristisches, herzerwärmendes Lächeln, das immer auf der rechten Seite seines Mundes begann und sich dann nach links ausbreitete. Von uns allen wirkte er am glücklichsten, am weichsten, am liebenswertesten.
    Nachdem Israel im Jahre 1967 Palästina erobert hatte, fuhren wir nie mehr nach Jerusalem. Zuerst war es zu schwierig, und später durften wir sowieso nicht mehr hinein. Am ersten Tag der Besatzung machte Israel das ganze marokkanische Viertel dem Erdboden gleich, ungefähr zweihundert alte Gebäude, Heimat für einige Hundert Menschen. Ihnen wurde zwei Stunden vorher gesagt, dass sie ihre Häuser räumen müssen. Sowohl Muslime als auch Christen, sowohl Griechen als auch Armenier sahen mit an, wie die Israelis ihr Hab und Gut beschlagnahmten, während sie selbst in Gettos oder ins Exil getrieben wurden.
    Ammu Jack bat den Fahrer, uns auf den Ölberg zu bringen.
    »Das ist ein klitzekleiner Umweg, aber der Ölberg wird dir gefallen. Das ist ein guter Aussichtspunkt, um einen Blick auf die Stadt zu werfen«, sagte er zu mir. Kurz darauf fuhren wir durch schmale Straßen, die von hohen, biblischen Steinmauern begrenzt wurden. Schließlich hielten wir am Rand eines alten jüdischen Friedhofs beim »Seven Arches«-Hotel, das über der Stadt thronte.
    Jerusalem hat mich schon immer bewegt, selbst wenn ich es hasste – und Gott weiß, dass ich es hasste, allein wegen des
Leids, das es über so viele Menschen gebracht hatte. Aber der Anblick der Stadt, sei es von der Ferne oder aus dem Labyrinth von Mauern heraus, besänftigt mich. Jeder Quadratzentimeter von Jerusalem birgt die Zuversicht antiker Zivilisationen. Man spürt Tod und Geburt, tief in den Eingeweiden der Stadt. Die Vergötterten und die Verdammten haben ihre Fußabdrücke im Sand hinterlassen. Jerusalem ist so oft erobert, zerstört und wieder aufgebaut worden, dass seine Steine bereits ein Eigenleben zu führen scheinen, geboren aus Blut und Gebeten. Aber auf irgendeine Art scheint die Stadt auch Demut auszustrahlen. Die Stadt entfacht in mir ein tiefes Gefühl der Vertrautheit – diese unwiderlegbare palästinensische Gewissheit, dass ich zu diesem Land gehöre. Es hat Besitz von mir ergriffen, ganz egal, wem es gerade gehört – denn in seiner Erde stecken meine Wurzeln und die Knochen meiner Ahnen. Denn es kennt die Lust, die meine Urmütter entflammt hat. Denn ich bin die Frucht seiner stürmischen, leidenschaftlichen Vergangenheit. Ich bin die Tochter des Landes, und Jerusalem ist der Beweis für diesen unveräußerlichen Titel. Jedenfalls mehr Beweis als die vergilbten Besitzurkunden, die Kataster aus osmanischer Zeit, die eisernen Schlüssel zu unseren gestohlenen Häusern, die Resolutionen der Vereinten Nationen oder die Verfügungen der Supermächte.
    »Ganz netter Ort, stimmt’s, Liebes?«, bemerkte Ammu Jack.
    Ich lächelte schüchtern und stieg wieder ins Auto.
    Es war schon dunkel, als wir beim Dar al Tifl al Arabi ankamen, dem Heim des arabischen Kindes. Die Direktorin, Miss Haydar, begrüßte uns mit betont aufrechter Haltung am Tor. Dann führte sie uns in ihr Büro und erklärte mir lang und breit die Regeln des Hauses. Unter dem elektrischen Licht beobachtete ich, wie ihre Miene sich verfinsterte, beinahe so, als
hätten wir sie irgendwie enttäuscht. In den nächsten Jahren

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