Während die Welt schlief
Ausland dachte, bereute sie zum ersten Mal, nicht im Lager aufgewachsen zu sein.
Nach fünf harten Tagen der Prüfungen wartete ich ausgelaugt, aber zuversichtlich auf die Ergebnisse. Ich wollte das Stipendium unbedingt haben, wenn auch nur als Bestätigung. Ich konnte mir nicht vorstellen, an einen anderen Ort als in das vertraute Jenin zu ziehen. Vielleicht würde ich auch als Lehrerin im Waisenhaus bleiben, wie Drina. Jedenfalls war ich nicht darauf vorbereitet, in die Vereinigten Staaten zu gehen, wie das Stipendium vorsah. Die Welt zu Hause machte mir schon genug Angst. Warum sollte ich es riskieren, an einen unbekannten Ort zu gehen, an dem niemand Arabisch sprach und ich keine Zufluchtsorte kannte? Es reichte mir, gute Noten zu bekommen. Mein Vater hatte sich eine Ausbildung für mich gewünscht, und ich hatte mich seinem Traum gehorsam gefügt. Ich war einfach nicht in der Lage dazu, mir eine weit entfernte Zukunft auszumalen.
Doch Yasmina hatte diese Gabe im Übermaß und entwickelte Pläne und Ersatzpläne. Sie versetzte mir eine klatschende Ohrfeige, als ich ihr ganz nebenbei erzählte, ich würde das Stipendium vielleicht nicht annehmen.
»Für wen hältst du dich eigentlich? Du kannst dieses Geschenk nicht ausschlagen!« Ihre Worte klangen in meinen Ohren. Nur mit außergewöhnlichem Glück bekam jemand wie ich diese unwahrscheinliche Chance, dem düsteren Schicksal zu entrinnen, das eigentlich mit der Geburt festgelegt war. Ja, für wen hielt ich mich eigentlich?
»Ich würde alles geben für dieses verdammte Stipendium!« Jetzt schrie sie, aber ihr Zorn richtete sich nicht gegen mich, sondern gegen etwas, das keine von uns sehen konnte. Sie wütete gegen das grausame Schicksal, das ihre Klugheit und ihren Fleiß nicht bemerken wollte. Sie hatte immer von der Universität geträumt, erst recht, als Gerüchte von Stipendien die Runde machten.
Ich schämte mich, als ich sah, wie enttäuscht Yasmina war. Am gleichen Abend, als ich allein auf dem Balkon saß, kam sie zu mir und gab mir einen freundschaftlichen Rat. »Sei nicht blöd, Amal. Überwinde deine Angst«, beschwor sie mich und ging wieder ins Zimmer. Ich blieb auf dem Balkon zurück, unter einer gleichgültigen Mondsichel, die von sternenübersätem Schwarz umschlossen war.
Als ich noch ein Kind gewesen war, hatte Haj Salim mir erzählt, dass man alle Antworten am Himmel ablesen kann, wenn man nur lange genug danach sucht. Er behauptete, die Sternbilder seien göttliche Hieroglyphen, die von gottesfürchtigen Herzen entziffert werden könnten. Diesem Himmelszelt offenbarte ich meine größte Wunde. In Jenin gab es nichts mehr für mich, außer ein paar Fetzen meiner Kindheit und den Trümmern meiner auf ewig verlorenen Familie, begraben unter den Abdrücken der israelischen Militärstiefel und Panzerketten. Wenn ich zurückkehrte, würde ich unausweichlich heiraten müssen, in der traditionellen Kultur des Flüchtlingslagers von Jenin. Meine fürchterliche Narbe und mein entstellter Körper ließen mich mit Grausen an eine Hochzeit denken – dadurch würde ich mich von Neuem zurückgewiesen und verlassen fühlen.
Ja, für wen hielt ich mich eigentlich? Für ein armseliges Waisenkind, staaten- und mittellos, von Almosen lebend. Das amerikanische Stipendium war ein Geschenk, das ich nicht ausschlagen durfte. Es war eine Schicksalsfügung, die den Traum meines Vaters vielleicht doch noch in Erfüllung gehen lassen würde.
Während der Mond den Himmel mit seinem Lächeln überzog, bat ich die Nacht, mir einen Traum zu schenken, der mir ganz allein gehören würde. Mein Leben lang hatte ich keinen eigenen Traum gehabt.
Ich konnte nicht gehen, ohne Huda und Osama und ihre kleine Tochter zu besuchen. Sie hatten sie Amal genannt.
Als Abschiedsgeschenk sammelten meine Freundinnen im Waisenhaus Geld für die Taxifahrt. Trotzdem kam nur ein Bruchteil der benötigten Summe zusammen. Zu meiner großen Verwunderung steuerte Miss Haydar die fehlenden einhundert Schekel bei. Noch seltsamer aber war die Umarmung, die ihrem großzügigen Geschenk folgte. Meine Augen wanderten von den Geldscheinen zu dem dick gepuderten Gesicht und den sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen der Frau, die mit ihrer stets missgelaunten Art das Waisenhaus leitete. Hinter ihrem zerfurchten Äußeren und ihren Anflügen von Wahnsinn spürte ich Unsicherheit und ein Gefühl von schwesterlicher Verbundenheit, als sie mich umarmte.
»Danke, Miss Haydar«, sagte ich
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