Während die Welt schlief
Huda hatte sich mit Fatima angefreundet.
»Dieses dumme Mädchen«, ereiferte sie sich, »sie weist jeden Verehrer ab.« Uns beiden war klar, ohne dass wir es aussprechen mussten, dass Fatima keinen Mann außer meinem Bruder wollte.
Gegen zwei Uhr morgens ging Osama zu Bett, damit wir »Frauengespräche« führen konnten. Was immer er sich darunter vorstellte, er wollte nichts damit zu tun haben. Huda strengte sich an, um wach zu bleiben, aber irgendwann gab sie schließlich auf und ließ sich von meiner Hand auf ihrem Haar in den Schlaf streicheln. Ich dagegen blieb wachsam, vielleicht, weil die Beklommenheit und die Spannung in mir eine Vorahnung auslösten, gegen die meine Müdigkeit nicht ankam.
Nervös ging ich hinaus in die Dunkelheit und kletterte auf das Dach von Hudas Behausung. In den heißen Sommern unserer Kindheit hatten Huda und ich zahllose Nächte auf den kühlen Dächern der Hütten verbracht, uns Geschichten erzählt, gelacht und getratscht. Von diesem Aussichtspunkt aus hatte ich einen guten Überblick über das eine Quadratmeile große Flüchtlingslager der Vereinten Nationen. So viele Menschen auf so engem Raum, voll trotziger Hoffnung auf die Rückkehr in ihr Palästina. Bald schwebte der Adhan durch die Luft und forderte die Muslime dazu auf, das erste Gebet des Tages zu sprechen, während die Sonne langsam aus den Hügeln aufstieg. Die melodischen Klänge des Adhan umschlossen mich, als wären es Babas starke Arme, und die Morgenbrise strich mir über die Haut wie Mamas Seidenschleier. Die Sonne stieg hinter den israelischen Panzern und dem Wachposten auf. Der Himmel färbte sich orange und beleuchtete einen Abschnitt meines Lebens, der unwiederbringlich fort war. Ich spürte eine große Sehnsucht nach den Tagen im Flüchtlingslager. Doch ich hatte ein gestohlenes Leben geerbt, das
ich mir in diesem Moment mit aller Entschlossenheit zurückholte, während die Hähne die Ankunft des neuen Tages verkündeten.
Ich legte Huda einen Brief in die Küche, neben den Kaffee, weil ich wusste, dass sie dort nach dem Aufstehen als Erstes hinschauen würde. In den Umschlag legte ich eine Halskette mit einem goldenen Amulett, auf das der Thronvers eingraviert war – ein Koranvers, der dem Träger göttlichen Beistand schenken soll. Das Kettchen hatte ich für die kleine Amal gekauft.
Ich plante, am nächsten Checkpoint nach Israel einzureisen und von dort ein Taxi zurück nach Jerusalem zu nehmen. In den engen Gassen strömte der Duft von Falafel durch die Luft. Ein Kanarienvogel sang aus seinem Käfig auf einem Balkon, und gedämpfte Schreie von erwachenden Babys drangen aus den dünnwandigen Häusern. Ein paar Menschen gingen auf und ab und begannen ihren Tag. Hähne stolzierten herum, wo immer sie ein Plätzchen fanden. Der Abschied machte mich beklommen, aber meine Beine liefen unbeirrt auf Haj Salims Tür zu.
Und da stand er, der für mich das Glück meiner Kindertage bedeutete! Er spazierte vor seiner Hütte auf und ab. Ich hielt an, bevor er mich entdecken konnte, und beobachtete, wie er vergebens den Staub an seiner Türschwelle wegfegte. Mit dem Rücken lehnte ich mich an eine Mauer und ließ meinen Körper daran herabsinken, während Haj Salim mit arthritischen Bewegungen den Besen führte. Ich umfasste meine Knie und stellte mir vor, wie ich meine Hand auf seine ledrige Haut legte, um ihn zu begrüßen und ihn um eine Geschichte aus unserem gestohlenen Palästina zu bitten. Vielleicht die über den starrköpfigen Hirten aus Khalil, der den ganzen Weg nach Akka zurücklegte, um nach seinen Schafen zu suchen.
»Ich hab alles schon erlebt. Diese Leute aus Khalil sind so starrköpfig, wahrscheinlich hat Allah darum so viel Granit nach Khalil geschickt. Sonst würden sie mit ihren Köpfen die Berge zerbrechen«, sagte er immer und lachte dabei mit seinem zahnlosen Mund.
Die Tränen stiegen mir in die Augen, und ich zog meine Knie näher zu mir heran. »Verdammter Staub«, hörte ich ihn mit routinierter Frustration schimpfen. Dann drehte er sich um und ging wieder ins Haus zurück. Ich musste lächeln. Jeden Tag kämpfte Haj Salim seinen komisch anmutenden Kampf gegen den Staub, und jeden Tag verlor er ihn. Als seine Metalltür scheppernd ins Schloss fiel, rappelte ich mich wieder auf.
Ich fuhr zurück nach Jerusalem, um mein Gepäck zu holen und mich von der Stadt zu verabschieden – und von allem, wofür sie stand. Als ich in meine Tasche griff, fand ich einen verschlossenen Umschlag
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