Während die Welt schlief
Herzens wahrnahm und Mamas Mauern tief in mir spürte. Ich erschauderte darüber, wie leicht ich mit dem Schmerz des Verlustes und der Trennung hatte fertigwerden können. Ich warf mich in die Arme meiner Freundin aus Kindheitstagen und unterdrückte die Entdeckung, die ich gerade gemacht hatte, genau wie meine Schluchzer an Hudas Schulter. Sie weinte, weil sie mich liebte und eine große Leere fühlte, seit ich Jenin verlassen hatte. Ich weinte, weil ich, obwohl ich sie liebte, diese Liebe nicht mit der gleichen Intensität erleben konnte.
Während ich versuchte, mein Dasein in einer unsicheren Welt zu stabilisieren, lernte ich, Frieden mit der Gegenwart zu schließen, indem ich unbewusst meine Herzensverbindungen in die Vergangenheit abbrach. Ich war in einer Landschaft aus improvisierten Träumen und abstrakten Sehnsüchten nach einem Land aufgewachsen – alles erschien mir temporär. Auf nichts konnte man sich verlassen, nicht auf die Existenz der Eltern, der Geschwister oder der Heimat. Nicht mal auf den
eigenen Körper, der so empfindlich auf Gewehrkugeln reagierte. Ich hatte mich schon lange damit abgefunden, dass ich irgendwann alles und jeden verlieren würde, sogar Huda. Das war die Erkenntnis, zu der ich an diesem Tag in den Armen meiner Freundin gelangte, darum weinte ich ganz egoistisch um mich selbst und um die Eiskristalle, die mein Herz bedeckten.
»Du bist die beste Freundin, die ich je hatte«, schluchzte Huda. »Jenin ist nicht mehr dasselbe ohne dich.«
Huda hatte gelernt, mit dem zufrieden zu sein, was sie hatte, und das Beste aus ihrem Leben zu machen. Ihre Erinnerungen waren ihre Quelle der Kraft. Das Flüchtlingslager war im Grunde nicht so schlecht. Sie fand Trost in den innersten Gefühlen, die ihre Freundschaften ihr schenkten, und der Glaube gab ihr Gelassenheit, selbst als die Soldaten ihre Hütte immer wieder auf den Kopf stellten, um nach »Terroristen« zu suchen. Solange sie am Ende des Tages in den Armen der Liebe lag, war sie glücklich.
Wir verbrachten den Tag, an dem Huda mich besuchte, auf dem Schulgelände, denn ich bekam keine Ausgangserlaubnis. Osama machte unterdessen einen Ausflug in die Altstadt. Ich stellte Huda den Mädchen meiner Clique vor, die sie freundlich und voller Wärme willkommen hießen, und wir hatten den ganzen Tag über Spaß, wie ihn nur junge Frauen haben können. Wir lauschten aufgeregt Hudas Antworten, als Drina sie über Sex ausfragte – Huda war schließlich die Einzige von uns, die das große Mysterium schon erlebt hatte. Abwechselnd horchten wir an ihrem Bauch, versuchten mit dem Baby zu sprechen und es dazu zu bringen, einen Salto zu schlagen. Ab und zu bewegte es sich tatsächlich, wie ein Schatten hinter einem Vorhang, und jedes Mal kreischten wir vor Begeisterung und Faszination. Zu sechst aßen wir aus einer von Huda
mitgebrachten Schüssel mit Lamm in Joghurtsauce. Yasmina teilte die Fleischstücke unter uns auf, konzentriert durch ihre Drahtgestell-Brille schauend.
»Das ist eine interessante Brille, Yasmina. So ein Gestell habe ich noch nie gesehen«, bemerkte Huda. Beinahe im Chor antworteten wir: »Die hat sie selbst gemacht.«
»Sie bastelt und erfindet ständig neue Sachen, unsere Yasmina«, erklärte Drina mit ungewöhnlichem Stolz.
»Ich kann dir auch so eine Brille machen, Huda, wenn du mir die richtigen Gläser gibst«, bot Yasmina ihr aufgeregt und voller Vorfreude an.
Wir wollten gerne daran glauben, dass alles beim Alten bleiben und unsere Sechserbande ewig halten würde, aber der Schulabschluss kam unausweichlich näher. Im Jahre 1973 war Drina schon seit zwei Jahren mit der Schule fertig, doch sie war dem Waisenhaus als Sportlehrerin erhalten geblieben. Gleichzeitig belegte sie Kurse an der Islamischen Universität. Layla war bereits auf ihren Weg zum Christentum aufgebrochen und in ein Kloster gezogen – damit hatte sie eine Steinmauer gegen eine andere eingetauscht. Für Yasmina und mich stand in diesem Jahr der Schulabschluss an. Wir schafften ihn beide mit Auszeichnung. Nur Muna hatte noch ein weiteres Schuljahr vor sich.
Obwohl Yasmina die Klügste und Fleißigste von uns war, bekam ich statt ihrer ein Stipendium. Es wurde von einer Vereinigung wohlhabender arabischstämmiger Amerikaner für palästinensische Flüchtlinge gestiftet. Da Yasminas Familie nach Südamerika gegangen war und nie in einem Flüchtlingslager gelebt hatte, erfüllte sie die Voraussetzungen nicht. Ich glaube, als sie an das Studium im
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