Während die Welt schlief
aufrichtig.
»Gern geschehen. Arbeite fleißig, sodass wir stolz auf dich sein können.«
Ich wollte nicht von einer Menschenmenge empfangen werden, darum hatte ich mein Kommen in Jenin nicht angekündigt. Von der Demarkationslinie aus ging ich zwei Meilen zu Fuß und passierte dabei zwei israelische Checkpoints. In der Nähe des entvölkerten Dorfs Al Ajoune traf ich einen palästinensischen Bauern, der mich auf seinem Ochsenkarren bis Ziraain, kurz vor Jenin, mitfahren ließ. Er weigerte sich, Geld von mir zu nehmen. »Ich kann doch kein Geld von einem arabischen Mädchen annehmen!« Ich bedankte mich bei ihm und ging den Rest des Weges zu Fuß. Drei israelische Panzer waren auf der Anhöhe über dem Lager postiert. Sie waren immer da. Sie waren immer aufmerksam.
Es war schon dunkel, als ich den Hügel hinabging, in Richtung des Labyrinths aus Slumhütten und Gassen, aber ich
brauchte kein Licht, um den Weg zu finden. Ich hätte auch die Augen schließen können, alles war in meinem Kopf abgespeichert. Da war Ammu Darwishs Hühnerstall, mein Lieblingsversteck. Einen Meter entfernt lag Lamyas Fenster, über das zwei Metallstreben verliefen, die ihr Vater dort anschweißte, nachdem er einen Jungen beim Hineinsehen erwischt hatte. Dann teilte sich der Weg in drei Gabelungen. Ich folgte dem mittleren, dem schmalsten Pfad in Richtung von Hudas Behausung. Die Hütten zu beiden Seiten standen nur schulterweit auseinander, und ich fuhr mit der Hand über ihre Lehmmauern, so wie Huda und ich es früher immer gemacht hatten. In ein paar Fenstern sah man Licht und Menschen, die schlaflos auf und ab gingen, aber die meisten Leute im Lager schliefen. Die zirpenden Grillen hatten das Kommando übernommen, und die streunenden Katzen, die auf der Jagd nach Essensresten oder Ratten waren. Wenn ich nicht gewusst hätte, wie freundlich und großzügig die Menschen hier waren, hätte ich Angst gehabt, im Dunkeln durch das Lager zu laufen.
Bei einer blauen, verbeulten und verkratzten Metalltür blieb ich stehen und klopfte zaghaft.
Osama spähte durch den verrosteten Türspion, bevor er mehrere Riegel laut klappernd zur Seite schob. Sein freudiges Lächeln schob seine Augenbrauen in die Höhe, direkt unter sein zerzaustes Haar. Mit seiner üblichen Freundlichkeit begrüßte er mich.
»Ahlan! Ahlan!«, rief er und führte mich in den winzigen Innenhof. Eine einsame Glühbirne summte in einer Ecke vor sich hin. In ihrem Lichtschein konnte ich schlafende Hühner im Stroh erkennen. In einem langen, rechteckigen Topf, der ohne Zweifel von Huda bemalt worden war, wuchs Gemüse. Kurz vor der Wohnstube bedeutete Osama mir, stehen zu bleiben. In seinen Augen blitzte es schalkhaft.
»Pssst«, flüsterte er mit einem Finger an den Lippen. »Wir überraschen sie.« Übertrieben auf den Zehenspitzen schleichend, führte er mich in ihr Zuhause. Ich folgte ihm und dachte an den Knaben aus meiner Kindheit, der jetzt Ehemann und Vater war und einen dünnen Schnurrbart in seinem jungenhaften Gesicht trug. Die Liebe zu seiner Familie sprach aus seinen Gesten. Als ich später Huda und Osama zusammen beobachtete, hatte ich das sichere Gefühl, dass die beiden füreinander bestimmt waren. Nach drei Jahren Ehe gingen sie so zärtlich miteinander um wie spielende Kätzchen.
Huda nahm mich stürmisch in die Arme, nachdem ich vorsichtig in die Küche gespäht hatte. Wie zu erwarten, brach sie in Tränen aus, und Osama und ich neckten sie liebevoll, weil sie so nah am Wasser gebaut war.
Sie führten mich zu der kleinen Amal, die in ihrer Wiege schlief. Sie war ein kräftiges Baby, mit olivfarbener Haut wie ihre Mutter und flaumigem schwarzem Haar. Ich strich ihr zart über den Babyspeck an Armen, Hals, Beinen und Bauch und drohte Huda und Osama scherzhaft, ich würde der Kleinen sämtliche Jugendsünden ihrer Eltern erzählen, sobald sie alt genug wäre, selbst allerhand Unfug anzustellen.
»Mach, was du willst«, flehte Osama, »aber weck sie nicht auf!« Sie tauschten einen Blick, der mir verriet, dass ich in ein romantisches Intermezzo hereingeplatzt war.
Zu dritt schwelgten wir in Erinnerungen und unterhielten uns über die Entwicklungen im Lager. Ammu Jack O’Malleys Nachfolgerin war eine freundliche, aber distanzierte Engländerin namens Emma, die nur selten über Nacht im Lager blieb. Ammu Darwish war dabei erwischt worden, wie er ohne Genehmigung Souvenirs an Touristen verkauft hatte, und saß jetzt seine dreimonatige Gefängnisstrafe ab.
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