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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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Diese Drohgebärden beunruhigten Yussuf sehr. Er machte sich Sorgen um uns, weil er fürchtete, die israelischen Angriffe könnten sich weiter verschärfen. Der Schutz der Flüchtlingslager war für ihn am
wichtigsten. Für dieses Ziel, die Sicherheit der Frauen und Kinder, ging die PLO-Führung schließlich einen Pakt mit dem Teufel ein.
    Aber bis April 1982 hatten die Vereinten Nationen genau 2 125 Verletzungen des libanesischen Luftraums und 652 Verletzungen der libanesischen Hoheitsgewässer durch die Israelis registriert. Israel zog 25 000 Soldaten an der Grenze zusammen und führte seine Provokationen im Süden Libanons unvermittelt fort. Die PLO widerstand jeder Vergeltungsaktion, wie auch die libanesische Regierung. Doch Yussuf nahm ganz richtig an, dass Israel schon einen Grund für eine Invasion finden würde, egal, ob die PLO etwas unternahm oder nicht.
    Yussuf und Majid und sogar Fatima überzeugten mich davon, dass es so am besten sei. Ich sollte zurück in die Vereinigten Staaten, meine Greencard erneuern und Einwanderungsanträge für meinen Mann, Fatima und die mittlerweile ein Jahr alte Filastin stellen. Yussuf gehörte untrennbar zur PLO, aber er wollte seine Familie unbedingt in Sicherheit wissen.
    »Amal, du darfst nicht denken, dass du uns zurücklässt«, erklärte mir Yussuf, der anscheinend meine Gedanken lesen konnte. »Es könnte gut sein, dass du uns das Leben rettest.«
    Meine Schülerinnen hatten heimlich eine Abschiedsparty für meinen letzten Schultag organisiert. Die jüngsten waren zehn, die ältesten fünfzehn Jahre alt, und alle trugen die gleichen blauen Schuluniformen. Die Mädchen hatten Süßspeisen und heißen Tee von zu Hause mitgebracht und stellten die Pulte zusammen, sodass ein großer Tisch entstand. Zwei Schülerinnen, Wafa und Dana, spielten auf der Tabla, und die anderen hakten sich gegenseitig unter, zogen mich mit in den Kreis und tanzten eine Dabka. Bevor ich ging, überreichte mir jede einen Brief, eine Zeichnung oder ein selbst gemachtes Abschiedsgeschenk.
Eins der kleinen Mädchen, Mirwat, hatte mir einen kleinen Kissenbezug bestickt. Darauf stand »I Love You«, auf Englisch.
    Ich versprach, ich würde zurückkommen, natürlich würde ich zurückkommen, ich wäre nur für eine Zeit lang weg, das sei nur eine – letztlich unnötige – Vorsichtsmaßnahme. Das sagte ich zu meinen Schülerinnen, bevor ich sie in Shatila zurückließ.
    Mich von Majid zu trennen war unendlich viel schwieriger.
    »Bitte, Majid. Bitte, Habibi, komm mit mir«, flehte ich ihn an.
    »Habibti, du weißt, dass ich nicht einfach gehen kann. Die Leute brauchen bald dringend Ärzte. Ich kann sie nicht ihrem Schicksal überlassen.«
    Da wünschte ich mir einen Feigling zum Ehemann.
    »Wenn etwas passiert, dann verspreche ich dir, ins Krankenhaus umzuziehen. Selbst Israel wird nicht wagen, ein Krankenhaus zu bombardieren«, versicherte er mir und zog mich zu sich heran. »Bevor du dich’s versiehst, sind wir wieder zusammen, kümmern uns um unser Kind und bekommen vielleicht noch ein weiteres. Ich werde dich immer lieben. Was wir zusammen haben, ist für die Ewigkeit bestimmt.«
    Liebe. Bis in die Ewigkeit. Für immer.
    So sprach mein Ehemann am Flughafen, an dem Tag, als ich Beirut verließ. Ich klammerte mich an jedes Wort. An jede Silbe.
    Mein Bruder nahm mir das Versprechen ab, in den Vereinigten Staaten als Allererstes um Asyl für Fatima anzusuchen, die weinend hinter ihm stand und die kleine Filastin im Arm hielt. Ich gab es ihm gerne. Fatima und ich versuchten in einer Art komischem Tanz, uns mit unseren dicken Bäuchen von der Seite zu umarmen. Wir waren beide schon im zweiten Trimester unserer Schwangerschaft und küssten uns in dieser gelösten
Stimmung. Wie auf ein Stichwort presste Filastin den geöffneten Mund an meine Wange und brabbelte meinen Namen: »Ammah.«
    Noch einmal küsste ich meinen Mann. Die nächsten Stunden unterwegs verbrachte ich damit, die bösen Vorahnungen zu verscheuchen, die wie Geier in meinem Kopf herumkreisten.

31
Wieder in Philadelphia
    1982
    Die Erde fasst uns nicht mehr.
Sie pfercht uns in den letzten Durchgang,
wir reißen uns die Glieder ab, um hindurchzukommen.
Wohin sollen wir gehen nach den letzten Grenzen?
Wohin sollen die Vögel fliegen nach dem letzten Himmel?
    Mahmud Darwish, »Die Erde fasst uns nicht mehr«, geschrieben in der Folge des Auszugs der PLO aus dem Libanon
    A m 16. Mai 1982 um neun Uhr morgens, sechsundzwanzig Stunden nachdem

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