Während die Welt schlief
ich Beirut verlassen hatte, landete ich in Philadelphia, obwohl ich dort nicht sein wollte. Es schien mir, als wäre es ein ganzes Leben her, dass ich zum ersten Mal in dieser Stadt angekommen war, unsicher, voller Angst vor den Rolltreppen und neidisch auf Lisa Haddads Haare.
Sofort rief ich Dr. Muhammad Maher an, Majids früheren Mentor in England, der inzwischen eine Professur in Philadelphia bekommen hatte.
»Amal, ich habe Ihren Anruf schon erwartet«, sagte er. Man hörte seiner Stimme das Alter, aber auch die Freude an. »Bitte
warten Sie bei der Gepäckausgabe auf mich. Ich bin in einer halben Stunde da.«
Ohne mein Wissen hatte Majid schon seit Monaten mit Dr. Maher korrespondiert und alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Ich hatte sogar schon eine Arbeitsstelle. Ich sollte Berichte über klinische Studien für die staatliche Überprüfung vorbereiten.
»Die Bezahlung ist gut. Sie müssen nur eine Kopie Ihres Abschlusses vorlegen. Aber wenn Sie lieber eine andere Stelle suchen möchten, werde ich Ihnen dabei helfen.«
Majid war wie ein Sohn für ihn. »Ich fände es daher sehr schön, wenn Sie mich Ammu oder auch Muhammad nennen würden. Jedenfalls nicht umständlich Doktor .«
Gerührt stammelte ich – auf Arabisch, nicht auf Englisch, denn »thank you« drückte nicht im Entferntesten aus, was ich sagen wollte: »Möge Allah Sie ewig mit seiner Gnade bedenken und reich mit seiner Güte beschenken. Ihre Güte, Doktor … Ammu Muhammad … ist beschämend.«
Das Leben lief hier viel schneller ab, das hatte ich ganz vergessen. Innerhalb von zwei Wochen war ich in meinen neuen Job eingeführt, hatte einen Kontrollbesuch beim Gynäkologen hinter mir und viermal bei der Einwanderungsbehörde vorgesprochen. Mein Ehemann hatte bereits eine Einreisegenehmigung bekommen, aber die Entscheidung über Fatimas Visum würde sich noch mindestens einen Monat hinziehen.
Die Dame von der Behörde hatte fest geflochtene afrikanische Zöpfe und ein freundliches Lächeln im Gesicht, als sie mir sagte: »Ich weiß, da drüben herrscht ein einziges Chaos. Ich werde tun, was ich kann, um den Antrag durchzuboxen.«
»Danke.« Möge Allah dich nie einen Mangel leiden lassen und dich mit Güte beschenken.
Die Stadt schien sich während meiner Abwesenheit verändert zu haben. West Philly hatte sich in einen einzigen Sumpf aus Drogen und Armut verwandelt. In den Gesichtern der dicken Matriarchinnen, die früher Autorität ausgestrahlt hatten, sah ich nur noch Verzweiflung, aber die Frauen saßen immer noch den ganzen Tag lang vor ihren Häusern.
Da waren meine alten Freunde: Angela Haddad, Bo Bo und Jimmy. »Schön, dich wiederzusehen, Amal.« Ich nahm mir eine Wohnung im Nordosten der Stadt, weil ich den Mahers nicht zur Last fallen wollte.
Während ich ab und zu mit meinem Mann oder Fatima telefonierte und voller Hoffnung darauf wartete, dass meine Verwandten nachkamen, wurden Ammu Muhammad und seine Frau Elizabeth zu einer Art Ersatzfamilie für mich. Ammu und Elizabeth waren seit fast fünfzig Jahren miteinander verheiratet. Nach ihrer Zeit in Oxford hatten sie in Afrika zusammen für die Kranken gearbeitet, er als Arzt, sie als Krankenschwester. Von den Hilfsorganisationen hatten sie dafür nur wenig Entlohnung bekommen. Jetzt, in den Vereinigten Staaten, verdienten sie gutes Geld, fühlten aber eine gewisse Getriebenheit und den Wunsch nach Kindern. Beide waren über siebzig und noch rüstig, doch sie mussten dem Alter ihren Tribut zollen und das Leben etwas langsamer angehen lassen. Sie gaben jungen Medizinern ihr Wissen weiter, damit die ihr Werk fortführen konnten: Ärzte ohne Grenzen. Eine Herzensangelegenheit, aber das genügte ihnen nicht. Meine Ankunft, mit dem neuen Leben in mir, erinnerte sie an ihre eigenen Wünsche, und mit der typischen Affinität älterer Menschen für Babys erfreuten sie sich an mir und meinem Schwangerschaftsbauch.
Elizabeth kümmerte sich darum, dass ich vernünftig aß, Vitamine zu mir nahm und regelmäßig zu den Kontrolluntersuchungen
ging. Sie saß neben mir, wenn ich jeden Tag im Libanon und bei der Einwanderungsbehörde anrief, und teilte meine Enttäuschung, wenn ich niemanden erreichte oder die Leitung besetzt war.
Ihr ergrauendes blondes Haar war kurz geschnitten und wellte sich hinter den Ohren. Elizabeth war alles andere als eitel. Sie ging groß und aufrecht durchs Leben, und ihre langen, leicht arthritischen Finger standen kaum eine Sekunde still. Sie wollte
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