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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Gerade noch rechtzeitig: Das Auto fuhr an, sprang einen Meter vor, stieß dann wieder zurück. „Aus dem Weg!“, befahl einer der Beamten. Er gab einen Schuss auf einen Hinterreifen ab, und das Gummi zerplatzte. Der Ferrari machte einen Satz in die Tiefe der Garage hinein, kollidierte mit einem abgestellten VW Golf und schob diesen ein Stück weit mit sich.
    Karla und Tim verschanzten sich ebenso hinter anderen Fahrzeugen wie die beiden Polizisten. Ein neuer Schuss wurde abgegeben, diesmal ins Innere des Fahrzeugs hinein. Glas klirrte. In den Schatten der schlecht ausgeleuchteten Garage bewegten sich namenlose Dinge. Die Decke lebte, wogte herab.
    Der Ferrari wendete, nicht ohne weitere Autos zu streifen. Karla hielt Tim fest, drückte ihn an sich.
    Die Ereignisse der nächsten Sekunden liefen wie in Zeitlupe ab.
    Sie begriff, dass der Ferrari diesen Ort zu verlassen versuchte. Das durften sie nicht zulassen. Die breiten Reifen brüllten auf, als er eine Runde um einige parkende Fahrzeuge drehte. Wenn er die Runde beendet hatte, würde er die Ausfahrt erreicht haben.
    Karla löste sich von Tim und rannte los. Es waren nur ein paar Schritte bis zu der Ausfahrt. Einer der Polizisten schien ihren wahnwitzigen Plan zu erahnen und versuchte sie zurückzuhalten, doch seine Hand griff an ihr vorbei. Fünf Schritte noch, dann stand sie mitten in der Ausfahrt.
    Der Wagen jagte auf sie zu.
    Karla schloss mit ihrem Leben ab. Sie machte ihren Frieden mit ihrem Vater und ihrer Mutter. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, um glücklich zu sein, aber sie beschloss, es wenigstens die letzte Sekunde ihres Lebens zu sein. Wenn gleich der Aufprall kam, die Schmerzen, dann würde es schwer sein, noch Glück zu empfinden, aber sie würde sich Mühe geben, der Angst nicht die Oberhand über sich zu gewähren.
    Angst war nichtig. Sinnlos. Sie stand, wo sie stand, der silberne Wagen schoss wie eine riesige Waffe auf sie zu, und es war vollkommen unwichtig, ob sie Angst verspürte oder Freude. Sie lebte. In dieser Sekunde lebte sie noch, und es war schön.
    Und sie hatte Hoffnung.
    Die Polizisten schrien etwas. Der Ferrari raste heran.
    Kurz bevor er sie erreichen konnte, wurde die Lenkung herumgerissen. Da war kein Lenkrad mehr im Inneren – sie konnte keines sehen. Nur Sehnen und Muskeln. Sie gehörten ihrem Vater. Irgendwie. Und diese Muskeln drehten die Reifen in der letzten Sekunde herum, so dass der Wagen sie verfehlte und die Motorhaube sich in die Seite eines geparkten Autos bohrte. Der Lärm des aufeinanderprallenden Metalls war wie eine Sinfonie in ihren Ohren.
    Der Motor erstarb. Karla trat ein paar Schritte zurück, da sie fürchtete, es könne zu einer Explosion kommen. Stattdessen zuckte im nun teilweise freigelegten Inneren des Wagens etwas. Es war, wie wenn man eine Muschel öffnet und der weiche Leib in der harten Schale stirbt. Die Wände und Decke der Garage wurden starr.
    Tim kam auf sie zugerannt und umarmte sie. Es fühlte sich gut an.
    „Ich wusste, dass mein Vater mich nicht töten konnte“, flüsterte ihm Karla ins Ohr. „Er wollte mich immer nur beschützen. Er hatte es nur auf Harald und Johannes abgesehen.“
    „Was … wollte er von mir?“, flüsterte Tim zurück. „Warum hat er mich einsteigen lassen?“
    Karla beobachtete, wie die beiden Beamten sich ihnen näherten. Sie warfen ungläubige Blicke in das Autowrack, in dem sich nun allmählich alles normalisierte. Die organischen Strukturen verschwanden, die Mechanik kehrte zurück.
    „Ich glaube“, sagte Karla, „er wollte dich an dem teilhaben lassen, was er nach seinem Tode ganz neu entdeckt hatte.“
    „Und was war das?“
    „Das Leben. Ein Mensch mit seinen Ängsten kann niemals richtig leben. Deshalb konnte er auch nicht richtig sterben. Sein Leben war eine Art Tod. Sein Tod war ungezähmtes, wildes Leben. Das wollte er dir zeigen. Du solltest das Leben auch kennenlernen. Er wusste, dass auch du ein Opfer deiner Ängste warst, wie er.“ Sie stockte. „Aber er konnte seine Rachegefühle nicht ganz ablegen. Deshalb musste er wohl noch einmal sterben.“
    Karla betrachtete das, was von dem Ferrari übriggeblieben war. Sie wunderte sich, wie die Worte aus ihr herausströmten. Es war, als hätte sie die ganzen Wendungen schon vorhergesehen, als hätte sie die Zusammenhänge schon gekannt und nur noch einer Bestätigung bedurft. Natürlich. Seit achtzehn Jahren war sie die Tochter dieses Vaters und dieser Mutter. Tausendmal hatte sie über diese

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