Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Haushaltshilfe, die sie die letzten Jahre über beschäftigt hatte, war selbst schon über siebzig und hatte sich zur Ruhe gesetzt. Eine neue ließ sich nicht finden – für die paar Pfund, die Clarence in der Woche zahlen konnte, wollte keines der jungen Mädchen arbeiten.
Also war es an der Zeit, ins Altersheim zu gehen.
Im Grunde war sie einverstanden damit, sah die Notwendigkeit ein und lehnte sich nicht dagegen auf. Sie war eine intelligente Frau, die nüchtern denken konnte, und sie wusste sehr wohl, dass sie in Betreuung besser aufgehoben war als alleine hier draußen in einem Haus, das fünf Meilen vom nächsten entfernt lag.
Das Problem war die Trennung vom Haus und vom Garten. Kaum hatte sie begonnen, ihre Sachen zu ordnen, die unwichtigen Dinge wegzuwerfen und die wichtigen zu sortieren und einzupacken, war es ihr, als müsse sie sich gar nicht von einem Gebäude und einem Stück Land verabschieden, sondern von ihrem Mann Frederic.
Die milde Trauer, die sie drei Jahrzehnte lang begleitet hatte, schlug plötzlich um in abgrundtiefen Kummer. Sie erkannte, dass sie seinen Tod nicht verarbeitet, sondern das Trauern nur verschoben hatte. All seine Sachen waren noch da, seine geliebten Bücher und Möbel, die Zeitungsausschnitte, die er gesammelt hatte, seine Kleider, seine Seife. Sogar seine Zigarrensammlung welkte noch in den kleinen Schränkchen dahin und roch mittlerweile ausgesprochen streng. Sie hatte nichts davon weggeworfen, und nun würde sie fast nichts mitnehmen können. Vielleicht hatte sie gehofft, es würde ihr nach all der Zeit leichter fallen, sich von den Erinnerungsstücken zu trennen, doch es war genau umgekehrt: Sie hatte sie so lange aufbewahrt, dass es ihr grausam erschien, sie jetzt auf ihre alten Tage noch hergeben zu müssen.
Es war der 23. Oktober 2004. Ein Samstag. Das Wochenende würde sie noch hier verbringen dürfen, ehe man sie am Montag abholte. Der Herr von der Wohlfahrt war bereits zweimal hier gewesen. Er hatte ein ganzes Album mit Fotos mitgebracht, auf denen die saubersten und hübschesten Winkel des Heims und seines kleinen Parks ins beste Licht gerückt waren. Doch als er den Garten und das Haus sah, in dem Clarence den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte, schob er das Album tief in seine Tasche hinein.
Es war Abend. Clarence war wieder allein. Aus eigener Kraft hatte sie das Wohnzimmer leergeräumt und Frederics Sachen dort aufgebaut. Sogar Möbel hatte sie geschleppt, gerückt , Zentimeter für Zentimeter, in tagelanger Arbeit. Der ganze Raum war voll geworden. Bis jetzt wusste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Sie saß in dem Stuhl, in dem er immer gesessen hatte, betrachtete die Bücherstapel, die in der Mitte des Raumes zusammengestellten Kommoden und Schreibtische. Die Zigarren machten, dass es innerhalb des Hauses noch mehr nach verrottendem Laub roch als draußen im Garten.
Als sie ein wenig verschnauft hatte, ging sie durchs Haus und öffnete alle Fenster. Sie redete sich ein, keinen besonderen Grund dafür zu haben, aber in Wirklichkeit wusste sie schon, warum sie es tat.
Frederic war ihr so nahe wie nie zuvor. Das spürte sie. Ob es an den hervorbrechenden Erinnerungen lag oder daran, dass er sie von drüben beobachtete und ihr bei dem schweren Schritt beistehen wollte, der in diesen Tagen vor ihr lag, konnte sie nicht sagen. Aber er war da. Sie spürte seine Anwesenheit in der Luft, im Äther, in allem, was sie umgab.
Und das war ihr nicht genug.
Sie wollte ihn bei sich haben, so nahe und greifbar wie möglich. Wenn er sie schon nicht in körperlicher Form besuchen konnte, dann wollte sie zumindest seine Stimme hören, seine Umrisse sehen. Sie wollte seinen Geist, das, was der Tod von ihm übriggelassen hatte.
Es ging auf Halloween zu. Auf Samhain, um genau zu sein.
Das alte keltische Fest der Toten war nur noch eine Woche entfernt. Die Zeit, in der die Seelen der Verstorbenen auf die Erde zurückkehrten, zu den Ihren. In ihrer Jugend hatte sie nicht viel darauf gegeben – sie hatte weder den Predigten der Pfarrer Gehör geschenkt noch sich um die älteren religiösen Traditionen geschert. Sie hatte das Haus und den Garten. Beides war ihr Religion und Zauber genug, mehr brauchte sie nicht.
Doch je älter sie wurde, desto mehr spürte sie ihn, den Jahreskreis, die mit den Jahreszeiten verbundenen unterschiedlichen Stimmungen und Kräfte. Sie war nie in Stonehenge bei Salisbury oder in Drombeg in Irland gewesen, und sie hatte nie ein
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