Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Buch über keltische Traditionen gelesen, aber sie spürte, dass über das Jahr hinweg etwas mit der Welt vor sich ging, etwas Tiefes, mehr als nur Sprießen, Blühen, Reifen und Verwelken.
Sie wusste nicht, wie man einen Toten rief, aber sie bezweifelte, dass man dafür ein Diplom brauchte. Sie liebte ihn noch immer, und ihre Liebe und Treue zu ihm war alles, was sie benötigte. Wenn sie die Fenster im ganzen Haus öffnete und den kalten nächtlichen Herbstwind einließ, dann tat sie das, um Frederic besseren Zugang zu gewähren. Wenn sie eine elektrische Lampe vor der Haustür einschaltete und zusätzlich noch ein Windlicht an der Gartenpforte, dann diente das demselben Zweck – Frederics Geist den Weg zu weisen.
Clarence schnupperte an den Zigarrenschachteln und öffnete jene, die am wenigsten unangenehm stank. Sie entfaltete einige der Briefe, die sie in jungen Jahren an ihn geschrieben hatte und die natürlich unter seinen Sachen zu finden gewesen waren, und heftete sie wie Poster an die Wand. Sie musste jeden Brief mit vier Reißzwecken befestigen, damit der Wind, der durchs Haus pfiff, sie nicht wegriss. Die Möbel staubte sie ab. Die Bücher reihte sie auf.
Es war kalt, und sie zog sich einen Mantel an, um die Fenster nicht schließen zu müssen. Die einzige Uhr im Raum ging schon lange nicht mehr, aber ihr Mann hatte sie gemocht, und so hatte sie sie nicht entfernen können. Vermutlich war es schon nach 23 Uhr. Obwohl sie sich gewöhnlich um Zehn schlafen legte, war sie kein bisschen müde. Sie hätte niemals schlafen können in diesen letzten Nächten in ihrem Haus. Das konnte sie tun, wenn sie im Altersheim war. Dort erwartete man von den Leuten, dass sie schliefen, also würde sie schlafen.
Trockene Blätter wehten zu ihr herein und verteilten sich im Wohnzimmer. Einmal kam sogar ein schwarzer Vogel, flatterte eine Weile unter der Decke herum und fand schließlich den Weg nach draußen. Insekten gab es auch, aber nur wenige. Die letzten Wochen waren kalt gewesen, beinahe winterlich.
Auch die Türen standen offen. Sie wusste nicht, ob Frederics Geist durchs Fenster kommen wollte. Zu seinen Lebzeiten hatte er die Tür bevorzugt, und warum sollte er seine Gewohnheiten geändert haben?
„Frederic“, sagte sie. „Ich möchte dich nicht irgendwo herausreißen, aber falls du gerade nichts zu tun hast … Es wäre schön, dich noch einmal zu sehen, ehe ich hier weggehe.“
Nach einer Viertelstunde fügte sie hinzu: „Lass dir Zeit, Frederic. Ich werde die ganze Nacht hindurch wach sein. Und morgen auch. Aber am Montagvormittag fahre ich ab. Danach ist es zu spät. Ich fürchte, ich werde dann an einem Ort sein, wo du mich nicht mehr findest.“ Sie kicherte. „Ich bezweifle, dass ich mich selbst dort finden werde. So viele Zimmer. So viele Leute.“
Irgendwann gegen Mitternacht zündete sie eine von seinen Zigarren an und paffte hustend daran. Blätterte in seinen Büchern. Streichelte die Möbel und quetschte sich zwischen ihnen hindurch. Zog ihre Unterschrift auf den Briefen nach, die sie ihm vor Jahrzehnten geschrieben hatte.
Allmählich veränderte sich etwas.
Es war der Wind. Obwohl er noch genauso stark blies wie zuvor, schien es, als stelle sich ihm etwas entgegen. In der Mitte des Wohnzimmers, zwischen den Möbeln, entstand eine Zone, die der Wind nicht mehr recht erreichte. Dort war es zwar eiskalt, aber windstill. Die Blätter machten einen Umweg um diesen Bereich herum. Clarence fand es interessant, genau dort zu stehen. Sie hatte keine Angst. Sie musste sogar schmunzeln und hob ihre knotigen, faltigen Hände. Es war angenehm.
Draußen im Garten passierte ebenfalls etwas. Sie konnte nicht genau erkennen, was es war, denn sie wollte das Wohnzimmer nicht verlassen, und draußen herrschte tiefe Dunkelheit, aber sie hörte Geräusche. Ein elektrisches Knistern, das nicht vom Laub stammen konnte, und dann merkwürdige, schwingende Laute, als würde etwas gespannt und dann angestoßen, wie Saiten oder Gummiringe, an denen man zupfte. Einmal glaubte sie durch das offene Fenster eine Art Netz zu sehen, gleich vor dem Haus, aber es war schwer zu sagen, ob es nicht einfach das Gewirr der Zweige war, das einen Moment lang so aussah.
Clarence hatte den Eindruck, als befände sich nicht nur ihr Mann in ihrer Nähe, sondern noch etwas anderes.
„Hast du jemanden mitgebracht, Frederic?“, fragte sie. „Das geht in Ordnung. Ich hoffe nur, dass es keine Frau ist. Das darfst du mir nicht antun,
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