Wärst du doch hier
sein weißes Hemd und die schwarze Krawatte passend zu der weißen Farbe und den schwarzen Buchstaben, in der Brusttasche steckte immer noch die Medaille. Seine Mutter hatte ihm einst die Geschichte von der Medaille erzählt, die an genau dieser Stelle geendet hatte. Es konnte so nicht geschehen sein. Seine Mutter hatte es erfunden.
Seine Hand umfasste die Sprosse fester. Der Cherokee neben ihm blubberte erwartungsvoll. Er schien eine Entscheidung herbeizusehnen – klettre doch um Himmels willen rüber! Oder fahr los! Aber er konnte beides nicht, als müsste er hier bleiben, für immer. Gleichzeitig wuchs in ihm die Überzeugung, dass ein eilig zusammengestellter Trupp von Trauergästen in ebendiesem Moment von Marleston auf dem Weg war, um ihn abzufangen. Plötzlich rüttelte er mit aller Macht an dem Tor, als wollte er es aus den Angeln heben, drehte sich dann um, setzte sich ins Auto und schlug die Tür heftig zu, als wollte er vor sich selbst ein Tor zuschlagen. Seine Hände umfassten das Steuerrad so fest wie eben noch die Sprosse, und es verging vielleicht eine halbe Minute, in der er auf das fremdartige schwarz-weiße Konstrukt starrte, das ihn so mühelos abgewiesen hatte.
Vor seinem inneren Auge sah er das alte Tor aus rohem Holz. Sowieso verschwamm alles vor seinen Augen. Und so bemerkte er nicht, dass er zwei deutliche, ihn geradezu identifizierende Merkmale seiner Gegenwart hinterließ.
Kein Auto war vorbeigekommen, in beide Richtungen nicht, solange er dort gestanden hatte, und kein Auto, weder Verfolger noch Reisende, waren zu sehen, als er wieder losfuhr, sodass niemand von dieser Unterbrechung unmittelbar im Anschluss an seine kopflose Flucht (von der allerdings alle Anwesenden Zeugen geworden waren) wissen konnte. Aber bis zum nächsten Regen – der am Tag danach mit einem kräftigen Südwestwind eintreffen würde – konnte jeder (einschließlich der Bewohner von Jebb House, wären sie denn zugegen gewesen) zwei Handabdrucke auf der obersten Sprosse sehen, beidseitig der schwarzen Buchstaben, die den Namen bildeten. Zwei große Hände hatten sie hinterlassen, offenbar hatten sie die Sprosse mit festem Griff umfasst, und kurz davor hatten sie, aus welchen Gründen auch immer, mit rotbrauner Erde Kontakt gehabt.
Er bog wieder auf die Straße. Auch am Lenkrad waren Spuren von roter Erde, und als er kurz darauf während der Fahrt mit ungeduldiger Gebärde seine schwarze Krawatte abriss, blieb ein ähnlicher Fleck auf dem weißen Kragen seines Hemdes.
Eines wenigstens hatte er festgestellt. Das letzte Mal, dass er das Tor berührt und zur Durchfahrt geöffnet hatte – nicht
dieses
Tor, sondern das alte –, war damals gewesen, als er den letzten Blick auf das Land der Jebb Farm geworfen hatte. Damals war Ellie bei ihm gewesen. Sie hatte ihren letzten Blick auf die Westcott Farm bereits hinter sich, offenbar ging das ohne größere Mühe. Und als sie zusammen von der Jebb Farm fortfuhren (verschiedene Objekte, die nicht unter den Hammer des Auktionators gekommen waren – darunter eine Schrotflinteund eine Medaille in einem mit Seide ausgeschlagenen Kästchen –, hinten im Auto), saß sie am Steuer, weil Jack sich ausdrücklich gewünscht hatte, derjenige zu sein, der ausstieg und das Tor zur Jebb Farm zum letzten Mal öffnete und schloss und einen letzten Blick auf den Fahrweg warf.
Damals war Ellie bei ihm gewesen. Sie waren auf dem Weg zur Isle of Wight. Alles war von Ellie in die Wege geleitet worden. Er hatte neben ihr gestanden, als ihr Vater beerdigt wurde. Mehr noch, er hatte ihr geholfen, den Sarg zu tragen.
Jetzt stieß er ein gewaltiges, unirdisches Heulen aus, das niemand hörte, und fuhr wie wild weiter.
30
Ellie sitzt in der Haltebucht bei Holn und rührt sich nicht vom Fleck.
Als Jack am Abend im Dunkeln zurückgekommen war, hatte sie unwillkürlich den Gedanken gehabt: ein verwundeter Soldat. So hatte sich ihr sein Anblick eingeprägt, im Lichtstrahl von der Haustür her gerahmt, als er langsam aus dem Auto gestiegen war, in dem sie jetzt festsitzt. Er hatte völlig erledigt ausgesehen, am Ende. Aber was hatte sie erwartet, nach einer solchen Reise? Einen verwundeten Soldaten. Und jetzt war er da.
Aber war er es wirklich? Zwei Tage lang hatte sie mit der Möglichkeit gelebt, dass er nicht zurückkehren könnte, aber die Möglichkeit, dass er zurückkäme, aber nicht mehr Jack wäre, wenigstens nicht der Jack, den sie kannte, hatte sie nicht in Erwägung
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